Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 3 Rezensionen online

Verfasst von: Stephan Merl

 

Nicholas Ganson: The Soviet Famine of 1946–47 in Global and Historical Perspective. Houndmills, Basingstoke, New York: Palgrave Macmillan, 2009. 218 S., Tab. ISBN: 978-0-230-61333-1.

Die sowjetische Hungersnot von 1946‒1947 mit ihren auf 11,5 Mio. geschätzten Opfern steht im Schatten der vorhergehenden Hungersnöte von 1921/22 und 1932/33. Gerade das macht ihre Erforschung so spannend. Wie konnte das Sowjetregime in der Formierungsphase des Kalten Krieges Hunderttausende seiner Bürger einfach verhungern lassen, ohne dass die Weltöffentlichkeit dies zur Kenntnis nahm? Wieso unter­blieb eine innenpolitische Erschütterung des Regimes? Wieso leistete die Sowjet­union gleichzeitig anderen Staaten, darunter Frankreich, Lebensmittelhilfen?

Es ist dankenswert, dass Nicholas Ganson, von der Ausbildung her Biologe, sich dieses Themas annimmt. Da bereits Arbeiten zum Ablauf vorliegen (V. F. Zima: Golod v SSSR 1946‒1947 godov: proischoždenie i posledstvija. Moskva 1996; Michael Ellman: The 1947 Soviet famine and the entitlement approach to famines, in: Cambridge Journal of Economics 24 (2000), S. 603‒630), konzentriert sich Ganson darauf, die Hungersnot in den Kontext des Kalten Krieges zu stellen und in globale Zusammenhänge einzuordnen. Damit gelingt es ihm, einen ungewöhnlichen Blick auf die Ereignisse zu werfen. Er vertritt die Ansicht, Hungersnöte in der Moderne seien weniger von Missernten als vielmehr von dem dahinter stehenden Gesellschaftssystem determiniert. Er fragt deshalb auch, warum gerade die Sowjetunion immer wieder von Hungersnöten getroffen wurde und ob großrahmige Hungersnöte eine Besonderheit totalitärer Staaten sind.

Im ersten Teil seiner Studie untersucht Ganson die Ursachen der Hungersnot und nimmt dabei insbesondere die kriegsbedingten Zerstörungen in den Blick. Der zweite Teil ist den gesellschaftlichen Wirkungen und der Staatsintervention gewidmet. Die einzelnen Kapitel behandeln die Hilfe des russischen Roten Kreuzes für Kinder, das System der Lebensmittelverteilung und die Frage nach dem Widerstand  der Bevölkerung gegen die Sowjetregierung. Im dritten Teil geht es um den globalen Kontext, die internationale Lebensmittelhilfe nach dem Zweiten Weltkrieg, Hungersnöte in der russischen Geschichte und den Vergleich moderner Hungersnöte untereinander.

Ganson hält die Ursachen der Hungersnot für multikausal. Die Kriegsfolgen hätten das Land anfällig gemacht, die Bevölkerung habe schon zuvor am Rande des Existenzminimums gelebt. Dazu traten die Dürre, die ideologische Befangenheit der Parteiführung und ihre beschränkte Kompetenz. Anders als V. F. Zima und Michael Ellman bezweifelt Ganson, dass nach der Ernte 1946 genügend Getreide zur Verfügung gestanden habe, um das Land vollständig zu versorgen. Er verwirft deshalb Zimas These, die Hungersnot sei mit ‚erzieherischer Absicht‘ bewusst herbeigeführt worden, um den Widerstand der Bauern zu brechen (S. 43) und die Bevölkerung zu zwingen, härter zu arbeiten (S. 135). Vielmehr betont er den Primat der außenpolitischen Ambitionen im Handeln der Sowjetführung.

Trotz ihrer beschränkten Ressourcen setzte auch die Sowjetunion auf der internationalen Bühne Getreide politisch ein. Etwa 10 % des beschafften Getreides (zusammen 1,7 Mio. t) exportierte sie 1946‒47 nach Polen, in die Tschechoslowakei und nach Frankreich. Ganson hebt hervor, dass dieser Export und seine begrenzte Fortsetzung während der Hungersnot belege, wie gering die Sowjetführung das Wohlergehen ihrer eigenen Leute einstufte (S. 105). Stalin wollte die abgeschlossenen internationalen Verträge einhalten. Auch die sofortige Einstellung des Exports hätte nach Gansons Ansicht die Hungersnot nicht vollständig vermieden. Bereits nach der Ernte 1945 traten großflächige Unterbrechungen der Getreideversorgung auf. Die Regierung spitzte die Situation weiter zu, indem sie 1946 bis in den Herbst mit Priorität ihr Ziel verfolgte, eine Getreidereserve anzulegen, um die Lebensmittelrationierung aufzuheben. Damit wollte Stalin einen Propaganda-Coup erzielen und die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus demonstrieren. Die Sowjetführung trage damit eine erhebliche Mitschuld an der Hungersnot.

Ganson behauptet, dass sich die Interessen der USA und der Sowjetunion beim Herunterspielen des sowjetischen Hilfsbedarfs trafen: „It was as if the two sides conspired to be silent so that both might gain“ (S. 102). Im gegenseitigen Einverständnis wurde die Tätigkeit der Hoover Hungerhilfemission 1947 gerade auf dem Höhepunkt der Hungersnot in der Sowjetunion eingestellt, nachdem die Hilfe zuvor schon zunehmend den amerikanischen Interessen untergeordnet worden war. Truman erfuhr im Dezember 1946 von den Agrarproblemen der Ukraine. Das von ihm erwartete Hilfsersuchen Stalins blieb aber aus. Stalin wollte unter keinen Umständen die im internationalen Ansehen vermeintlich erlangte Ebenbürtigkeit mit den USA aufs Spiel setzen. Ganson betont die weit reichenden Folgen dieser Konstellation für den Verlauf der Weltgeschichte. Die Annahme von Hilfe durch die Sowjetunion hätte es den USA kaum erlaubt, diese als kriegslüsterne Macht und militärische Bedrohung hinzustellen: „The image of a starving USSR, of an enfeebled country incapable of military aggression, would have mightily undermined the idea of an ominous Soviet Union and done little to rally support for the Truman Doctrine“ (S. 102).

Die Parteiführung leistete nach dem Eintreffen der Meldungen von Hungersymptomen keine Lebensmittelhilfe. Lediglich zur Sicherung der Feldbestellung wurden im Herbst 1946 und im Frühjahr 1947 Getreidedarlehen zur Verfügung gestellt. Stalin setzte darauf, mit den knappen Ressourcen auszukommen. Die Hungersnot von 1946/47 führt Ganson damit vor allem darauf zurück, dass der Sowjetführung der Willen fehlte, den Hunger zu vermeiden. Er hält die Hungersnot von 1946/47 am ehesten für vergleichbar mit den Hungersnöten in Indien unter britischer Kolonialherrschaft (S. 140f). In beiden Fällen gab es eine Indifferenz zu großflächigem Hunger. Menschliches Leid sei mit der aus der Ideologie abgeleiteten Zivilisierungsmisson gerechtfertigt worden. Die Klassifikation als „totalitäre Hungersnot“ sei deshalb irreführend. Sowohl die Autokratie als auch die Sowjetführung nach Stalins Tod hätten Hungersnöte durch aktive Intervention vermieden, obwohl demokratische Institutionen fehlten.

Gansons Argumentation, wonach die Sowjetführung die Hungersnot vor allem als ein Ereignis ansah, das ihre außenpolitischen Ambitionen störte, überzeugt. Er vermag viele wichtige und anregende Hinweise zu ihrer Einordnung zu liefern. Bedingt ist als Mangel festzuhalten, dass er unterschätzt, wie kontinuierlich Hunger zur Normalerfahrung des Sowjetbürgers gehörte und die Bevölkerung seit 1930 begleitete. Nach dem deutschen Angriff brach 1941 die Getreiderversorgung weitgehend zusammen, so dass die Menschen zum Überleben darauf angewiesen waren, sich von Schrebergärten und Hofland selbst zu versorgen. Das unterstreicht allerdings nur zusätzlich, wie gering die Bedeutung war, die die Sowjetführung der ausreichenden Ernährung der eigenen Bevölkerung beimaß. Indem Ganson die Hungersnot in den Kontext des beginnenden Kalten Krieges stellt, prangert er auch die Rolle Trumans an, der Kenntnis von den Versorgungsproblemen hatte und dennoch keine Bereitschaft zeigte, rein humanitär Hilfe zu leisten. Die Medienkontrolle ermöglichte der Sowjetunion, die Hungersnot im eigenen Lande zu tabuisieren.

Stephan Merl, Bielefeld

Zitierweise: Stephan Merl über: Nicholas Ganson: The Soviet Famine of 1946–47 in Global and Historical Perspective. Houndmills, Basingstoke, New York, NY: Palgrave Macmillan, 2009. ISBN: 978-0-230-61333-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Merl_Ganson_Soviet_Famine_of_1946_47.html (Datum des Seitenbesuchs)

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