Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stephan Merl

 

Legitimation und Protest. Gesellschaftliche Unruhe in Polen, Ostdeutschland und anderen Transformationsländern nach 1989. Hrsg. von Dieter Bingen / Maria Jarosz / Peter Oliver Loew. Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. 314 S. = Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts, 31. ISBN: 978-3-447-06562-7.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1016123736/04

 

Dieser Sammelband ging aus einer Tagung hervor, die das Deutsche Polen-Institut gemeinsam mit dem Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften im Herbst 2010 in Berlin veranstaltete. Thematisiert wird ein sehr wichtiges Thema des Transformationsprozesses, nämlich die bisherigen Erfahrungen mit der Übertragung des KonzeptesDemokratieauf Osteuropa: Sind populistische Protestbewegungen eine Besonderheit dieses Transformationsprozesses bzw. wie hängen populistischer Protest und Transformation zusammen?

Die Herausgeber stellen fest, dass sich dieBewegungsforschungin letzter Zeit mit unterschiedlichen Formen von sozialem und politischem Protest beschäftigt habe.Eine systematische, die disziplinären und territorialen Grenzen überschreitende Darstellung unterschiedlicher sozialer und politischer Protestformen in Ostmitteleuropanach der Epochenwende 1989/1990 fehle aber bislang (S. 7). Der Band soll derKonstellation der Akteure im sozialen Raum, den Strategien gesellschaftlicher Protestkampagnen, symbolischen Handlungen und der medialen Berichterstattung nachgehen (S. 9). Als Fragen formulieren die Herausgeber u.a., ob populistische Bewegungen eine Bereicherung oder eine Herausforderungen für die Demokratie darstellen und welche Bedeutung der Protest für die Transformation hatte: Wie wurde darauf politisch reagiert? Konnte sich die demokratische Ordnung gegenüber der Mehrheit der Gesellschaft legitimieren? Wurden Ziele oder Instrumente der Reformpolitik korrigiert?

Diese Fragen klingen spannend und sind anspruchsvoll. Doch kann dieser überwiegend auf Polen bezogene Band wirklich einen Beitrag zu ihrer Beantwortung leisten? Festzustellen ist erstens, dass die Fragestellung geradezu nach Vergleichsstudien schreit, die mehrere Transformationsländer einbeziehen. Zwar behandeln vier Fallstudien jeweils ein anderes Land (ehemalige DDR, Tschechien, Ukraine, Ungarn). Einen Vergleich leisten die hier präsentierten Beiträge aber nicht. Nur Stefan Garszecki und Klaus Bach­mann werfen einleitend einen allgemeineren Blick auf das Problem des Populismus. Ein zweites Bedenken erwächst aus der hier dominierenden gegenwartsbezogenen politologischen Betrachtungs- und Herangehensweise. Gerade bei dem Thema Übergang zurDemokratiewerden ihre Grenzen deutlich. Das Verhalten der Bevölkerung wird wesentlich von längerfristigen Prägungen beeinflusst. Dazu gehören insbesondere die Nachwirkungen der zuvor hier bestehenden diktatorischen Regimes. Theorieansätze wie der von Langenohl (Andreas Langenohl: Afterthoughts onTotalitarianCommunication, in: Kyrill Postoutenko (Hrsg.): Totalitarian Communication. Hierarchies, Codes and Messages. Bielefeld 2010, S. 301–311), die auf Lernblockaden verweisen, die typisch für Staaten nach Beendigung einer Diktatur sind und über ihr Ende hinaus die kritische Auseinandersetzung mit Positionen behindern, werden nicht berücksichtigt, ebenso wenig langfristige, im jeweiligenkulturellen Reisegepäckeiner Bevölkerung bewahrte Einstellungen. Die zitierte Aussage von Dieter Bingen, es sei erstaunlich,wie schwach sich der Kommunismus in Polen verwurzelt hatte(S. 51), markiert diese Verständnisblockade. Allein der Beitrag von Agnieska Zagańczyk-Neufeld macht hier eine Ausnahme (vgl. unten). Ein drittes Problem besteht in der Qualität einzelner auf Polen bezogener Beiträge, die rein deskriptiv bleiben. Gelegentlich fragt man sich sogar, ob der betreffende Verfasser sein Thema überhaupt überblickt. Muss wirklich jede Schreibübung von Doktoranden einem breiteren Publikum präsentiert werden? Eine stärkere Auswahl hätte dem Band gut getan.

Ganz offensichtlich ist der Populismus hier vor allem der Rechtspopulismus eine Reaktion auf die Komplexität der Realität, die von der Masse der Bevölkerung nicht verstanden wird. Bachmann verweist darauf, dass dies nicht nur die Transformationsländer betrifft, sondern auch gestandeneDemokratienwie die USA. Viele Politiker auch bei uns tendieren dazu,populistischzu handeln. Liegt die Ursache also doch tiefer, als es vieleDemokratietheoretikerzugeben wollen, wenn sie bereits einefreie Wahlfür ein Kennzeichen von Demokratie ansehen? Ist der von Bachmann hervorgehobeneMinderheitenschutznicht vielleicht ein treffenderes Kriterium für ein demokratisches Bewusstsein der Bevölkerung? Wenn dem so ist, darf eine Analyse nicht ausblenden, welche Kommunikationsstrukturen und Verhaltensweisen unter den kommunistischen Diktaturen zuvor eingeübt waren.

Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert. Im ersten Abschnitt Populismus, Protest und Systemtransformation geht es zunächst um die allgemeine Verortung des Populismus, danach folgen vier auf Polen bezogene Beiträge. Stefan Garsztecki (Chemnitz) steckt in seinem Beitrag (S. 15–30) bei der Gegenüberstellung der politischer Programme Themenfelder des Populismus in Osteuropa ab. Der Beitritt zur EU habe die Probleme der ostmitteleuropäischen Demokratien nicht gelöst. Die Ursachen für die Erfolge rechtspopulistischer Parteien verortet er in der ökonomischen Unsicherheit, kulturellen Veränderungen, politischer Orientierungslosigkeit und dem Gefühl mangelnder Repräsentation. Er fragt, ob der Populismus ein notwendiger Bestandteil von Demokratie, ein Ventil für die Regierten und Mahnung für Regierende darstelle. Als Lösung schlägt er dendeliberative turn: eine stärkere Einbindung der Bürger und die Thematisierung der Konflikt­austragung vor. Klaus Bachmann (Warschau) behandelt (S. 31–49) unterschiedliche Konzepte der Politikwissenschaft zumPopulismus. Dabei streift er die Frage, ob populistische Bewegungen als Chance für die Demokratie zu betrachten sind, indem sie erlaubten, vernachlässigte oder ausgegrenzte Themen anzusprechen. Populistische Gruppierungen organisierten gesellschaftliche Gruppen, die sich von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert fühlten, und rückten marginalisierte Themen ins Licht. In Polen habe das Auftauchen populistischer Parteien die Politikverdrossenheit gemindert. Maria Jarosz, Soziologin an der Polnischen Akademie der Wissenschaften, betont, dass der Konflikt zwischen Populismus und Liberalismus das Land spalte (S. 50–69). In Warschau isolierten sich die besser gestellten Bürger von den übrigen Einwohnern. Öffentliche Räume würden dabei zerstört. Die Menschen hätten den Solidarność-Führern geglaubt und erwartet, dass ihre Forderungen nach Freiheit, Gerechtigkeit und gutem Leben erfüllt würden (S. 61). Die Idee der nationalen Einheit sei wie ein Kartenhaus zerfallen. Fanatische Wähler von Recht und Gerechtigkeit (PiS) erschienen immer stärker als politisch-religiöse Sekte und trügen dazu bei, dass sich unter der Mehrheit der Bevölkerung eine antiklerikale Einstellung verbreite. Auf der anderen Seite stünden die gebildeten Menschen, vorwiegend junge Nutznießer der Transformation. Łukasz Scheffs untersucht die PiS als Protestpartei (S. 70–84) und betont das negative Verhältnis der Gesellschaft zur politischen Elite. Martin Dahl geht auf die sozialen Kosten der Systemtransformation ein. Schließlich behandelt Piotr Kocyba dieBewegung für die Autonomie Schlesiens(S. 96–112).

Die Beiträge im zweiten Abschnitt untersuchen unter Einbeziehung Ungarns das Thema Rechtsradikalismus und Antisemitismus. Daniel Fleisch behandelt antisemitische und nationalistische Ressentiments in Protesten gegen die polnische Systemtransformation (S. 152–164).

Die Beiträge von Aron Buzogány und Florian Ferger widersprechen überzeugend der These, wonach vor allem dieVerliererdes Transformationsprozesses für das Auftreten von Populismus verantwortlich seien, wie Jarosz und Garsztecki in ihren Beiträgen argumentieren. Buzogány untersucht den Aufstieg der radikalen Rechten (Jobbik) in Ungarn (S. 115–138). Sie setzt bis heute erfolgreich auf den Bewegungscharakter. Die Ursachen lokalisiert er in einer vorhergehenden strukturellen Rechtsverschiebung, die eine zunehmende Nachfrage nach Protestpolitik geschaffen habe. Ferger überprüft die 1967 von Scheuch und Klingemann aufgestellte These von denModernisierungsverlierernam Beispiel Tschechiens (S. 139–151). Er betont, dass bisherige Untersuchungen nur einen äußerst geringen kausalen Zusammenhang von Deprivation und rechter Einstellung ergeben hätten. Deutlich stärker sei dagegen der Einfluss der Kontrollvariablen Bildung: Anfällig seien nicht primärTransformations-Verlierer, sondern Personen, die nur über ein geringes Bildungsniveau verfügten.

Der dritte Abschnitt will zwischenaltemundneuemsozialen Protest unterscheiden. Piotr Antoniewicz behandelt den Antiglobalisierungsprotest, den eine kleine Gruppe von Aktivisten zumeist außerhalb Polens zum Ausdruck brachte (S. 186–203). Adam Ostolski beschreibt Umweltproteste in Polen seit 1989 (S. 204–218). Sollten seine Aussagen zutreffen, wäre der späte Beginn und die geringe Durchschlagskraft dieses Protestes in Polen im Vergleich mit den anderen kommunistischen Staaten hervorzuheben. Marta Trawińska zeigt auf, dass Frauenrechte ein Nebenthema blieben, obwohl die Frauen zu den großen Verliererinnen der Wende gehörten (S. 219–236). Der Bochumer Doktorand Marcus Böick untersucht den sozialen und betrieblichen Protest gegen die Treuhandanstalt und den Wirtschaftsumbau in der DDR in den frühen neunziger Jahren (S. 167–185). Das ist nicht wirklich mit den Entwicklungen in den anderen Ländern vergleichbar, weil für die ehemalige DDR die politischen Versprechungen im Rahmen der Wiedervereinigung (Blühende Landschaften) besonders glaubwürdig klangen. Böick nimmt diese perspektivlose Protestbewegung ins Auge, die nach seiner Ansicht heute erinnerungspolitisch ausgeblendet wird. Er fordert eine neue sozial-, kultur- und mediengeschichtliche Perspektive auf die Frühzeit der Berliner Republik und führt sieben Charakteristika dieses Protestes an. Schließlich gehen die beiden Jenaer Doktorandinnen Andrea Priebe und Dorothée Marth auf den Einsatz von Weiblichkeit als politisches Happening am Beispiel der ukrainischen FEMEN ein (S. 237–246). Die Bochumer Doktorandin Agnieska Zagańczyk-Neufeld thematisiert in langfristiger Perspektive ein spezifisches, weit über den polnischen Fall bedeutendes Problem Osteuropas: die bevormundende Einstellung der Bildungselite gegenüber demeinfache Volk‘ (S. 247–269). Dabei geht sie von der Erfolglosigkeit des sozialen Protestes in Polen nach 1989 aus. Sie führt das auf eine lange, im 19. Jahrhundert gründende Tradition zurück, die noch heute die Entstehung zivilgesellschaftlicher Organisationen und damit die Organisationsfähigkeit von Protest in Polen behindere. Die paternalistische Einstellung der Bildungselite gegenüber dem Volk habe die Volksrepublik überdauert. In den Augen dieser Elite blieb die Gesellschaft auch nach 1989 politisch unreif und musste weiterhin gelenkt werden (S. 253). Sie betrachtete die Gesellschaft weiterhin nicht als Subjekt, sondern als Objekt. Entsprechend hielten dieeinfachen Menschen‘ Engagement traditionell für zwecklos. Sie glaubten, sowieso keinen Einfluss auf die Politik nehmen zu können. Im Widerspruch zu Jarosz betont die Verfasserin, dass empirische Studien zeigten, wie hoch Gleichheit, soziale Gerechtigkeit und die staatliche Garantie der sozialen Sicherheit in der gesellschaftlichen Wertehierarchie Polens stünden (S. 255–256). Das widerspreche der These von der völligen Entfremdung der Gesellschaft von der Staatsmacht: Obwohl die Bevölkerung das System kritisierte, blieb ihre Erwartung an den Sozialstaat hoch.

Zwei abschließende Beiträge sind Fragen von Legitimität und Erinnerungskultur gewidmet. Piotr Forecski untersucht die Auseinandersetzungen um die Begräbnisstätten von Lech Kaczyński und Czesław Miłosz (S. 263–285). Peter Römer sucht im Vergleich der Aufarbeitung diktatorischer Vergangenheit in Deutschland und Polen nach Ansätzen von Ideentransfer (S. 286–304).

Dieser trotz einiger kritischer Anmerkungen durchaus anregende politologische Sammelband behandelt wichtige Fragen des osteuropäischen Transformationsprozesses beim Aufbau demokratischer Ordnungen. Er verdient Beachtung und sei zur Lektüre empfohlen. Weitere Forschungen auf diesem Feld erscheinen aber dringend geboten. Dabei wäre eine stärkere historische Tiefenschärfe wünschenswert. Es müsste stärker nach der vorherigen kulturellen Disposition der Bevölkerung gefragt und untersucht werden, inwieweit der heutige Populismus auch als spezifische Nachwirkung der unter den kommunistischen Regimes eingeübten Kommunikations- und Verhaltensweisen anzusehen ist.

Stephan Merl, Bielefeld

Zitierweise: Stephan Merl über: Legitimation und Protest. Gesellschaftliche Unruhe in Polen, Ostdeutschland und anderen Transformationsländern nach 1989. Hrsg. von Dieter Bingen / Maria Jarosz / Peter Oliver Loew. Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. 314 S. = Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts, 31. ISBN: 978-3-447-06562-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Merl_Bingen_Legitimation_und_Protest.html (Datum des Seitenbesuchs)

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