Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Vasily Melnikov

 

Bunte Flecken in Weißrussland. Erinnerungsorte zwischen polnisch-litauischer Union und russisch-sowjetischem Imperium. Hrsg. von Thomas M. Bohn / Rayk Einax / Julian Mühlbauer. Wiesbaden: Harrassowitz, 2013. 231 S. = Historische Belarus-Studien, 1. ISBN: 978-3-447-10067-0.

Inhaltsverzeichnis:

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In der deutschen Öffentlichkeit gilt die Republik Belarus als „letzte Diktatur Europas“. Zugleich ist sie aber auch ein „weißer Fleck auf der politischen Landkarte“. Diesen Fleck mit Farbe zu füllen, ist das Ziel der neuen Reihe Historische Belarus-Studien. Die Herausgeber Thomas M. Bohn, Rayk Einax und Julian Mühlbauer geben dem Leser in der Einleitung einen kurzen Einblick in die Region. Aufgrund von zahlreichen kulturellen Einflüssen und unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen ist die Suche nach einer weißrussischen Identität sehr komplex. Belarus unterstand im Laufe der Jahre verschiedenen Machthabern, die alle ihre Spuren hinterlassen haben. Genannt werden vor allem das Moskauer Reich, die Adelsrepublik Polen-Litauen, die Zweite Polnische Republik und die Sowjetunion. Eine eigenständige Entwicklung Weißrusslands ist – abgesehen vielleicht von den zwanziger Jahren – erst seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu verzeichnen. Die Suche nach einer eigenen Identität fängt schon bei der Eigenbezeichnung an: Sagen wir „Belorussland“ oder „Weißrussland“? Den Autoren zufolge ist „belarussisch“ ein Bekenntnis zu Sprache und Kultur, während „belorussisch“ dem sowjetischen Erbe entspricht. Die folgenden Untersuchungen gehen allerdings sowohl auf historische Gebiete wie Polesien als auch auf einzelne Bevölkerungsgruppen wie die „Hiesigen“ (tutėjšyja) oder die jüdische Bevölkerung ein.

Zunächst behandelt Hernandez Sahnovič in seinem Beitrag die Epoche des Großfürstentums Litauen, also die westlichen und nordwestlichen Teile der heutigen Republik Belarus. Diese Epoche soll als Legitimation für die Kontinuität weißrussischer Staatlichkeit dienen. Zum einen betrachtet der Autor die sprachliche Diversität, zum anderen die vorherrschende religiöse und kulturelle Vielfalt. Er behandelt dabei den Zeitraum vom 14. bis zum 17. Jahrhundert, d.h. die Zeit der Reformation und der Adelsrepublik Polen-Litauen. Hauptthema ist das friedliche Zusammenleben aller Konfessionen in einem katholischen Staat als idyllisches Gegenbild zum Moskauer Reich und zum damaligen Westeuropa.

Fast in dieselbe Zeit des 15. bis 18. Jahrhunderts fällt die Blüte der Schtetl (mjastečki). Die „typischen städtischen Siedlungen einer Holzbauzivilisation“ in Belarus gibt es heute zwar nicht mehr. Sie werden von der offiziellen weißrussischen Geschichtspolitik auch kaum beachtet. Dennoch könnten sie laut Zachar Šybeka durch ihre große Akkumulation kultureller Wertgegenstände – vor allem in der Blütezeit der Renaissance im 16. Jahrhundert – noch heute eine bedeutende Rolle für den Tourismus spielen. Die Hochphase dieses ‚Paradieses‘ ging jedoch im 19. und 20. Jahrhundert endgültig zu Ende. Diesen Niedergang analysiert der Autor unter Berücksichtigung sieben kultureller Katastrophen jener Epoche.

Ein weiterer Erinnerungsort und eine große Touristenattraktion ist die Belovežskaja Pušča, der „litauische Urwald“. Dieser wird durch die heutige polnisch-weißrussische Staatsgrenze geteilt und bildet für beide Nationen eine Schnittstelle ihrer Geschichte. Der Beitrag von Thomas M. Bohn darüber wurde geschrieben, bevor das komplette Gebiet im Juni 2014 zum Welterbe der UNESCO erklärt wurde. Diese Region ist einerseits durch den Wisent, den „Imperator des Waldes“ bekannt und andererseits wegen der „Hiesigen“ (tutėjšyja), die sich bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges in erster Linie durch ein starkes Regionalbewusstsein ohne ethnische und nationale Zugehörigkeit auszeichneten.

Diese Entstehungsgeschichte führt zu zwei Beiträgen über die Weißrussische Staatsuniversität (BGU) und die Europäische Humanistische Universität (EHU), verfasst von Johannes Wiggering und Felix Ackermann. Während die Weißrussische Staatsuniversität seit Mitte der dreißiger Jahre als Kernelement bei der Bildung staatstreuer Schichten fungiert, ist die Europäische Humanistische Universität das passende Gegenbeispiel. Gegründet wurde die BGU 1929, in der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik. Sie überschneidet sich dabei mit der „goldenen Zeit“ der Belarussifizierung, die bis 1929 andauerte. In dieser Epoche gehörten nur wenige der Professoren und Dozenten der Kommunistischen Partei an. Der „Klassenstatus“ spielte eine nicht besonders große Rolle, und in die Bildungsprogramme der Agrar-, Medizin- und gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten stellten Pragmatismus, Improvisation und Supranationalität in den Vordergrund. Die EHU verfügt in mancher Hinsicht über eine ähnliche Tradition. Sie wurde 1992 als ein philosophisches Projekt des Rektors Anatolij Michajlov in Konkurrenz zu den sowjetischen Hochschulen gegründet, zog jedoch 2004 ins Exil nach Litauen um. Der Beitrag spiegelt den schwierigen Existenzkampf, die durchlaufenen Veränderungen und den heutigen Konkurrenzkampf mit der belarussischen Staatsideologie wider.

Auch die Agrarverhältnisse in der „goldenen Zeit“ finden Erwähnung. Dimitri Roma­now­ski erläutert ausführlich, wie die weißrussische Intelligencija versuchte, die Erfahrungen andere Länder – vor allem Dänemarks – zur Entwicklung der eigenen Region zu übernehmen. Ausgehend von einer ressourcenarmen Lage, sollte die Wirtschaft vor allem mit Kartoffelanbau, Fleisch-, Milch- und Holzverarbeitungsindustrie in Schwung gebracht werden. Während der Neuen Ökonomischen Politik wurde das Konzept der Standorttheorie gut umgesetzt und erwies sich aus wirtschaftlicher Sicht als Erfolg. Die forcierte Industrialisierung und die gewaltsame Kollektivierung setzte jedoch sowohl diesen Versuchen als auch der Neuen Ökonomischen Politik insgesamt ein Ende, da diese dem Konzept der Kommandowirtschaft im Weg standen.

Der Zweite Weltkrieg stellte eine weitere Zäsur dar, durch die die konventionellen dörflichen Netzwerke endgültig verschwanden. Die traumatischen Erlebnisse der ansässigen Bevölkerung sind ein zentraler Erinnerungsfaktor der weißrussischen Gesellschaft. Ein exemplarisches Beispiel, die Deportation von Ozariči 1944, stellen Christoph Rass und Aliaksandr Dalhouski vor. Hierbei kamen über 40.000 Menschen ums Leben. Die beiden Autoren präsentieren zunächst die allgemeinen Gegebenheiten der deutschen Herrschaft in Weißrussland. So führte der Rückzug der deutschen Truppen zur Politik der verbrannten Erde und zur Beseitigung der „überflüssigen Esser“, also zu Massenmorden. An diesem Beispiel erklären die Autoren die typische Arbeitsteilung der Täter. Schließlich befassen sie sich mit der zeitgenössischen Rezeption dieser Ereignisse. Rass und Dalhouski erläutern ihre These, nach der die Massendeportationen in erster Linie durch den offiziellen Mythos der „Partisanenrepublik“ überschattet werden.

Von den Partisanenmeistererzählungen handelt der Beitrag von Ekaterina Keding. Sie bietet einen historiographischen Abriss des Mythos an, untersucht die Schulbücher und analysiert die Dauerausstellungen belarussischer Museen. Ihrer Meinung nach gehört der Partisanenmythos zum Gründungsmythos der belarussischen Nation, da er vom Staat zum Kernelement der Erinnerung an die traumatischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg gemacht wurde. Dabei wurde nicht nur die Unterstützung durch die „ganze Bevölkerung“ behauptet, sondern zudem die Partisanenbewegung als „Zweite Front“ deklariert. Zweck dieser Darstellung war die Erfüllung von Integrations- und Legitimationsfunktionen in der Nachkriegszeit. Keding folgert aus dieser Analyse, dass bis heute der Partisanenmythos nicht kritisch hinterfragt wurde. Wichtige Aspekte wie der Widerstand gegen die Sowjetmacht oder die ambivalenten Beziehungen zur Zivilbevölkerung seien offiziell unausgesprochen geblieben. Auch die Rolle des Partisanen Petr Mašeraŭ – Erster Sekretär der Kommunistischen Partei Belorusslands von 1965 bis 1980 – sei ungeklärt. In diesem Zusammenhang erklärt Julian Mühlbauer im anschließenden Beitrag, dass die gegenwärtigen Erinnerungen und Legenden immer noch mit Attributen wie Menschlichkeit und Taktgefühl verbunden sind. Dies erklärt ihm zufolge, warum die Regierungszeit von Mašeraŭs oft als „goldene Zeit“ empfunden wird. Vor allem ökonomische Erfolge und wenig Korruptionsanfälligkeit prägten diesen Zeitabschnitt, was in auffälligem Gegensatz zu der aktuellen Lage steht.

Anhand des Einzelschicksals der Elena M. untersucht Elizaveta Slepovitch schließlich antisemitische Strömungen vom Spätstalinismus bis zur Perestroika. Die alltagsgeschichtliche Darstellung umfasst Kapitel wie Arbeit, Religion, Nachbarschaft bis hin zur Emigration. Der Autorin zufolge wurde das Leben der Juden in der Sowjetunion ständig von einem unterschwelligen Antisemitismus begleitet. Dies betraf sowohl die Arbeit als auch das alltägliche Leben, obwohl die Freundschaft der Völker der Sowjetunion zur Staatsdoktrin erhoben war. Hier knüpft auch der Beitrag von Michelle Klöckner über die Freundschaftszüge zwischen der BSSR und der DDR an. In erster Linie seien sie Propagandamittel gewesen, die eine friedliche Koexistenz hervorheben sollten. Kontrollierte Programme sollten nur in vorbildlichen Betrieben durchgeführt werden, um einen detaillierteren Blick hinter die Kulissen zu vermeiden. Auch der Beitrag von Annegret Jacobs beschreibt historische Aspekte der weißrussischen Gesellschaft. Sie befasst sich mit dem Dorfleben von orthodoxen Geistlichen, ihrer Rolle, ihrer Selbstdarstellung und ihren Zielen. Dabei geht die Autorin der Frage nach, ob „orthodox“ eine zentrale Bedingung für „Belarussisch-Sein“ sei und wie religiös die Belarussen selbst seien. In der Folge fällt der Blick wiederum auf heutige Instrumentalisierungen durch den Staat. Volha Bartash betrachtet das Zusammenleben von Roma und Einheimischen, sowohl in historischer als auch gegenwärtiger Perspektive. Er versucht dabei, die eigene Identität der Roma in Wechselwirkung mit der nicht-nomadischen Bevölkerung herzustellen. Die Zäsur der Sowjetzeit spielt hierbei eine wichtige Rolle, da sie dem Empfinden der Roma nach dem nomadischen Leben ein Ende setzte. Ein weiterer kulturgeschichtlicher Essay präsentiert die legendäre Handballmannschaft SKA-Minsk, von ihren Anfängen bis in die Zeit nach 1991. Der Autor Alexander Friedman stellt die These auf, dass eine Analyse der Entwicklungen der BSSR der achtziger Jahre unvollständig sei, wenn das Phänomen der SKA-Minsk außer Acht gelassen werde. Ihm zufolge haben die Siege der Mannschaft der weißrussischen Gesellschaft geholfen, die Katastrophe von Tschnernobyl besser zu verarbeiten. Auch die schwere Zeit der Hyperinflation nach 1991 wird von Rayk Einax in seinem wirtschaftsgeschichtlichen Kurzbeitrag über den belorussischen Rubel, den zajčik, behandelt. Dem Autor zufolge ist die Schwäche des Rubels als ein Ausdruck für die Schwäche des Staates anzusehen, wodurch er eine Verbindung zur nationalen Identität herstellt.

Im Beitrag von Iryna Kashtalian werden die Zeitzeugenerinnerungen auf ihre Objektivität hin analysiert. Die Autorin versucht, die methodischen Probleme der Oral-History bei der Auswertung aufgezeichneter Aussagen darzustellen mit dem Ziel, sie wissenschaftlich nutzbar zu machen. Sie konzentriert sich dabei vor allem auf die politischen Einstellungen der Menschen.

Indessen ist jedoch auch die Ausübung des Journalistenberufes kein leichtes Unterfangen in Weißrussland. Der Autor Stefan Jarolimek erläutert in seinem Beitrag zunächst den theoretischen Hintergrund für die Analyse journalistischer Tätigkeit, und wendet diesen dann auf das postsozialistische Regime in Weißrussland an. Ihm zufolge sind unabhängige Journalisten ständigem staatlichen Druck und staatlicher Kontrolle ausgesetzt. Ähnliches gelte auch für Künstler, Schauspieler und Musiker, die in einem Beitrag von Konrad Hierasimowicz Erwähnung finden.

Der vorliegende Sammelband behandelt ein breites Spektrum von Themen. Der zeitliche Schwerpunkt liegt dabei auf dem 20. Jahrhundert. Besonders hervorzuheben ist die umfassende Darstellung der weißrussischen Erinnerungskultur und ihren Methoden der Verarbeitung der Vergangenheit, sowohl mit Analysen zur Sowjetzeit als auch mittels begründeter Parallelen zur Gegenwart. Dadurch bietet dieser Sammelband einen guten Überblick zu Themen, die die Erinnerungslandschaft Weißrusslands prägen. Der Auftakt der Reihe Historische Belarus-Studien ist insofern gelungen und wird wohl mit der Veröffentlichung von Dissertationen fortgesetzt.

Vasily Melnikov, Ufa, Russland

Zitierweise: Vasily Melnikov über: Bunte Flecken in Weißrussland. Erinnerungsorte zwischen polnisch-litauischer Union und russisch-sowjetischem Imperium. Hrsg. von Thomas M. Bohn / Rayk Einax / Julian Mühlbauer. Wiesbaden: Harrassowitz, 2013. 231 S. = Historische Belarus-Studien, 1. ISBN: 978-3-447-10067-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Melnikov_Bohn_Bunte_Flecken_in_Weissrussland.html (Datum des Seitenbesuchs)

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