Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Rudolf A. Mark

 

Asiatic Russia. Imperial power in regional and international contexts. Edited by Uyama Tomohiko. Abingdon, New York: Routledge, 2012. XV, 296 S. = New Horizons in Islamic Studies (Second Series). ISBN: 978-0-415-61537-2.

Inhaltsverzeichnis:

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Der Sammelband vereint die Vorträge eines 2007 an der Hokkaido-Universität in Tokio abgehaltenen internationalen Symposions zur Imperiologie des Russländischen Reiches und seiner asiatischen Regionen. Es hat, wie der Herausgeber Tomohiko hervorhebt, nicht nur Russland-Historiker, sondern auch Orientalisten und Islamwissenschaftler unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft zusammengeführt, was man angesichts des Themas allerdings auch nicht anders erwartet hätte. Die Beiträge, gegliedert in vier Abschnitte, beleuchten Zusammenhänge wie Russlands Expansion nach Osten, Raum und Bevölkerung, russische Machtprojektion jenseits der Reichsgrenzen sowie das asiatische Russland als Raum für nationale Bewegungen.

In seiner Einführung skizziert der Herausgeber kurz die Expansion des Zarenreiches seit Ivan IV., unterstreicht die herausragende Rolle der Tataren als Mediatoren zwischen Russland und Zentralasien, verweist auf die Veränderungen der russischen Haltung gegenüber der islamischen Welt sowie auf den politisch-institutionellen Wandel der imperialen Asienpolitik. Damit werden die Dimensionen beschrieben, welche die Region als „a space for asymmetric interaction“ (S. 1) definieren bzw. konstituieren.

Im anschließenden I. Teil untersucht Ricarda Vulpius in einer komparativen Studie die zivilisatorische Mission des Russländischen Reiches im 18. Jh. und deren Wandel im Deutungsdiskurs imperialer europäischer Herrschaftsansprüche. Die Verfasserin setzt sich dabei intensiv mit dem Zivilisationsbegriff seit Peter dem Großen auseinander und führt der Leserschaft neue, diskussionswürdige Herleitungen des russischen Begriffs vor Augen. Aspekten der Reichsgeschichte im 18. Jh. zugeordnet sind die nachfolgenden Beiträge von Hamamoto Mami und Gulmira Sultangalieva. Beide zeigen am Beispiel der Tataren, welch wichtige Funktionen diese im Kontext der imperialen Integration der Steppen-Gebiete wahrnahmen. Zum einen dienten ihre Beziehungen mit dem imperialen Zentrum als Modell für russische Versuche, die Kasachen unter zarische Botmäßigkeit zu bringen, zum zweiten spielten Tataren bis zur Mitte des 19. Jh. eine entscheidende Rolle in der Gestaltung und Umsetzung Petersburger Zentralasienpläne.

Strategien, um Räume durch Institutionalisierung von Herrschaft und mittels Demographie zu integrieren und zu kolonialisieren, sind Gegenstand des zweiten Abschnitts: Matsuzato Kimitaka zeichnet die russischen Debatten über Kompetenz und Funktion der Generalgouverneure im Spannungsverhältnis zwischen wechselnden staatlichen Vorgaben und regional unterschiedlichen Herausforderungen für die Amtsinhaber nach. Anatolij Remnev untersucht Strategien und Mechanismen, die bei dem kolonialen Versuch, aus Fremden Russen zu machen, in den asiatischen Teilen des Zarenreichs Anwendung fanden. Er identifiziert zudem die impliziten wie expliziten Widersprüche und Defizite, die der Implementierung als retardierende Momente oder grundsätzliche Hindernisse im Wege standen. Wie schwierig der Versuch war, Russisch-Turkestan demographisch zu erfassen, demonstriert am Beispiel der ethnischen Gemengelage im Fergana-Tal Sergej Abašin. Er macht zudem deutlich, wie sehr die aus solchen Bemühungen hervorgegangenen Statistiken auch Ausdruck unterschiedlicher Interessen und Visionen von Erfassern und Erfassten waren.

Diesen Innenaspekten von Dimensionen imperialer Raumerschließung in unterschiedlichen regionalen und zeitlichen Zusammenhängen folgen im dritten Teil Abhandlungen zur russischen Macht-Projektion jenseits der Reichsgrenzen. Allerdings ist die Kapitelüberschrift Russian power projected beyond its borders etwas irreführend, denn der erste Beitrag ist den russischen Handelsbeziehungen mit China zwischen 1750 und 1850 gewidmet. Der Verfasser Noda Jin belegt, dass Russland praktisch nur über Mittelasien und mit Hilfe muslimischer Mediatoren mit China Handel treiben konnte, aber nach dem Vertrag von 1851 eine hegemoniale Position gewonnen hatte. Während diese Erkenntnis nicht unbedingt Neuigkeitscharakter besitzt, aber für die Bewertung der russischen Mittelasienpolitik vor dem Krimkrieg durchaus aufschlussreich ist, bietet die anschließende Studie von Robert D. Crews interessante Einblicke in die Alltagswirklichkeit imperialer Expansionsmechanismen im Iran. Als Beispiel dienen ihm muslimische Netzwerke und deren Bedeutung im Kontext imperialer Patronage und Teheraner Versuche, sich den Beschränkungen des Vertrages von Turkmantschai zu entziehen. Crews gelingt es zu zeigen, wie sich Handelsakteure ihrer Geschäftsbeziehungen und internationaler Kontakte bedienten, um den Zugriffen und Kontrollversuchen der imperialen Zentren zu entgehen. Ein wiederum ganz anderes Thema ist Gegenstand eines Artikels von Kimura Satoru, der die Beziehungen zwischen Schiiten und Sunni-Mehrheit im Emirat von Buchara während der Protektoratszeit untersucht. Nach einem historischen Abriss über Herkunft und Lage der überwiegend als Sklaven nach Buchara verbrachten Schiiten versucht der Verfasser, die Unruhen von 1910 als Ergebnis der russischen Annexion und ihrer Folgen für die säkularen wie religiösen Verhältnisse im Emirat zu erklären. Dabei scheinen Jadidismus und Friktionen innerhalb der sunnitischen Ulema einen nicht unwesentliche Einfluss ausgeübt zu haben. Weitere Recherchen hält Kimura dazu aber für durchaus angebracht. Dagegen lassen die von Nikolaj Cyrempilov ausgewerteten Archivalien für seine Analyse der Role Agvan Doržievs in der Tibetfrage zwischen 1912 und 1925 die Vermutung zu, dass für weitere Spekulationen zu Person, Absichten und Plänen des im Dienste des Dalai Lama stehenden Emissärs aus Burjätien kein Anlass mehr besteht. Doržiev – so auch die von anderen Autoren schon gewonnene Erkenntnis – war ein Agent Tibets, der zuvörderst die Theokratie des Dalai Lama erhalten wollte, dabei seine Hoffnungen auf die zarische Regierung wie auf die Sowjets setzte, aber nicht in deren Diensten stand.

Im vierten und letzten Teil des Buches sind unter dem Obertitel Das asiatische Russland als Raum für nationale Bewegungen drei Beiträge versammelt. Salavat Iskhakov geht in seinem Aufsatz den politischen Aktivitäten der Muslime in Turkestan zwischen 1905 und 1916 nach. Er zeigt, wie die Unzufriedenheit mit den Zuständen in Turkestan, vor allem aber die wachsende Kritik an der russischen Politik seit der zweiten Duma, die jadidistische Bewegung förderte und zugleich zu einer Hinwendung der muslimischen Reformkräfte zu möglichen Verbündeten und Unterstützern außerhalb der Grenzen des Zarenreiches führten. Gleichzeitig verstärkten Russlands rücksichtslose Kolonialpolitik sowie die Defizite der Verwaltung die Unzufriedenheit unter der turkestanischen Bevölkerung. Sie kulminierten schließlich im Aufstand von 1916, den Iskhakov als ein Vorzeichen der Februarrevolution von 1917 betrachtet. Dass der Jadidismus nicht nur eine entwicklungsbestimmende kulturelle Reformbewegung darstellte, welche die muslimischen Gemeinschaften mit neuen Ideen, Methoden und Wahrnehmungen mobilisierte, sondern jene und ihre Vertreter sich auch mit Opposition und Widerstand konfrontiert sahen, beleuchtet James H. Meyer in seinen Darstellung The economics of Muslim cultural reform. Es ging dabei, wie er herausarbeitet, zwar nicht nur, aber vor allem auch um Geld, Einfluss und administrative Ressourcen, weshalb die konservativen, traditionalistischen Mullahs die Neuerer mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln verfolgten – einschließlich der Denunziation bei den Behörden. Allerdings hebt Meyer zu Recht hervor, dass sich Lage und Möglichkeiten der Jadidisten von Region zu Region sehr unterschieden und dass ungeachtet der Friktionen zwischen Anhängern und Gegnern an der Bedeutung der jadidistischen Reformbestrebungen für die Belange der muslimischen Gemeinden im Zarenreich kein Zweifel bestehe. Abgeschlossen wird der letzte Abschnitt mit einer Studie von Uyama Tomohiko zur kasachischen nationalen Bewegung Alash Orda und deren komplizierten Beziehungen mit den Bürgerkriegsakteuren zwischen Sibirien, Ural und Turkestan. Er verweist zudem auf das schwierige Erbe der imperialen Vergangenheit, die sowohl hinderlich als auch förderlich für kasachische Interessen gewesen sei, wobei vor allem die Verteilung der Kasachen über unterschiedliche Gebietskörperschaften die Herausbildung eines politischen Zentrums nach der Revolution erschwerte.

Überblickskarten des Russländischen Reiches und der Verwaltungsgliederung Russisch-Zentralasiens um 1900 sind den Texten vorangestellt. Eine weitere Kartenskizze illustriert Nodas Artikel. Abgeschlossen wird der Sammelband durch ein Personen- und Sachregister.

Insgesamt betrachtet behandeln die Beiträge fast ausschließlich zentrale Fragestellungen zur räumlichen Dimension in den Zentrum-Peripherie-Beziehungen, deren Asymmetrien und kognitiven Herausforderungen. Sie werden hier in den wenigsten Fällen zum ersten Mal angesprochen, basieren aber in der Regel auf der Auswertung umfangreicher Archivbestände russischer, türkischer, persischer und tibetischer Provenienz, wie der Herausgeber zu Recht hervorhebt. Dagegen blieben erstaunlicherweise Studien und Darstellungen zu den behandelten Themen in  deutscher und französischer Sprache mit seltenen Ausnahmen unberücksichtigt.

Rudolf A. Mark, Lüneburg

Zitierweise: Rudolf A. Mark über: Asiatic Russia. Imperial power in regional and international contexts. Edited by Uyama Tomohiko. Abingdon, New York: Routledge, 2012. XV, 296 S. = New Horizons in Islamic Studies (Second Series). ISBN: 978-0-415-61537-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mark_Tomohiko_Asiatic_Russia.html (Datum des Seitenbesuchs)

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