Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reveiews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Rudolf A. Mark

 

Olga A. Andriewsky [et al.] (ed.): Tentorium Honorium: Essays Presented to Frank E. Sysyn on his Sixtieth Birthday. Edmonton, Toronto: Canadian Institute of Ukrainian Studies Press, 2010. XX, 502 S., Abb. ISBN: 978-1-894865-20-3.

Inhaltsverzeichnis:
http://www.ciuspress.com/catalogue/journal-of-ukrainian-studies/307/vol-34-num--summer-winter-2009  

 

Dem langjährigen Direktor des Peter Jacyk Program for Ukrainian Historical Research am Canadian Institute of Ukrainian Studies der Universität von Albert und Generalherausgeber des englischen Übersetzungs- und Publikationsprojektes von Mychajlo Hruševs’kyjs vielbändiger Geschichte der Rus-Ukraine, F. E. Sysyn, haben Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeiter und Freunde eine Festschrift gewidmet, deren lateinischer Titel die euro-atlantischen Kontexte signalisiert, die den Gefeierten als Zeitgenossen wie als Wissenschaftler geprägt haben. Er ist zugleich auch eine Allusion auf Sysyns herausragende Studien über die polnisch-litauische Rzeczpospolita und die lateinisch-byzantinisch-slawische Ideenwelt der Adels- und Kosakengesellschaften zwischen Kiew, Warschau, Brest und Lemberg.

Die Festschrift versammelt 33 Beiträge von Historikerinnen und Historikern, mit denen der Jubilar in den vergangenen Jahrzehnten über den halben Erdkreis verstreut als Kollege, Lehrer, Wissenschaftsorganisator und Herausgeber zusammengearbeitet hat. Wie das dem Buch vorangestellte wissenschaftliche Porträt Sysyns zeigt, ist dieser vor allem auch als Wissenschaftsorganisator und Verantwortlicher zahlreicher Forschungsprojekte sowie als einer der Inspiratoren und Betreiber des institutionellen Ausbaus der Ukraine- und Osteuropaforschung in Nordamerika erfolgreich gewesen. Außerdem hat der als Kind galizischer Immigranten geborene Amerikaner stets den Kontakt mit dem Herkunftsland seiner Eltern gepflegt und schließlich eine wichtige Rolle bei der Neuausrichtung der Ukraineforschung nach dem Ende der UdSSR gespielt – sowohl in der Ukraine als auch in deren Nachbarländern und nicht zuletzt in seiner Funktion als Vizepräsident der Internationalen Assoziation der Ukrainisten (MAU).

Die Reichweite seines Wirkungskreises und die Vielfalt seiner Forschungsinteressen spiegeln sich auch in den Aufsätzen der Festschrift wider, die zeitlich von der Kiever Rus’ bis in die aktuelle Gegenwart hineinreichen und räumlich zwischen Kiew und Edmonton angesiedelt sind. Den Auftakt bildet nach einem kurzen Vorwort die schon erwähnte, von O. An­driewsky und Z. Kohut zusammengestellten Skizze des akademisch-wissenschaftlichen Werdegangs Sysyns seit den ersten Studentenjahren in Princeton, Stanford, London usw. sowie ausführlicher seine Studien- und Lehrjahre an der Harvard-Universität. Dort wurde zu Beginn der 1970er Jahre die Ukraineforschung etabliert und rasch ausgebaut, woran der 1976 Promovierte bald maßgeblich beteiligt war, bevor er sein Tätigkeitsfeld nicht weniger erfolgreich nach Kanada verlegte. Die hier gebotene biographische Skizze reicht aber über ein Porträt des Geehrten hinaus, weil sie auch eine interessante erste Einführung in die Geschichte der personellen und institutionellen Entwicklungen der modernen Ukraineforschung auf dem nordamerikanischen Kontinent liefert. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Arbeiten Sysyns rundet die Ausführungen zu dessen wissenschaftlicher Karriere ab.

Die ganz unterschiedlichen Themen, Fragestellungen, Forschungsperspektiven und methodischen Ansätze der übrigen Beiträge werden durch kein übergreifendes erkenntnisleitendes Interesse im engeren Sinn zusammengehalten, sondern spiegeln die vielfachen Kontexte wieder, in denen die Geschichte der Ukraine Gegenstand der Forschung ist. Dabei kommt natürlich der Frage nach der Identität bzw. den Identitäten und Orientierungen sowie der Eigen- und Fremdwahrnehmung der Ukraine und ihrer Bevölkerung in der komplexen historischen Wechselbeziehung mit Russland und Polen-Litauen eine besondere Bedeutung zu – nicht zuletzt auch deshalb, weil F. Sysyn dazu Forschungsparadigmen und fruchtbare heuristische Ansätze geliefert hat. In der Festschrift lassen sich dazu folgende Beiträge finden: Reading the History of Ukraine-Rus’: A Note on the Popular reception of Ukrainian History in late Imperial Russian and Revolutionary Ukraine (O. Andriewsky), Fatherland in Russian Culture: Fifteenth-Seventeenth Centuries (P. Bushkovitch), „Ruski człowiek“: Muscovites and Ruthenian Identity in Occupied Wilno, 16441661 (D. Frick), The Formation of Modern National identity and Interethnic Relations in the Galician Highlands: Some Findings of a Local Oral History Project (L. Heretz), How Sissi Became a Ruthenian Queen: On some Peculiarities of the Peasant Worldview (Y. Hrytsak), Nikolaj Polevoj i „zvyčajna schema ‚rus’koji‘ istoriji“ (V. Kravčenko), From Japhet to Moscow: Narrating Biblical and Ethnic Origins of the Slavs (Z. E. Kohut), Carpathian Rus’: Interethnic Coexistence without Violence (P. R. Magocsi), Between Poland and Russia: Mykhailo Hrushevsky’s Dilemma, 19051907 (S. Plokhy), Mapping Ukraine: From Identity Space to Decision Space (R. Szporluk), „Otečestvo“ v predstavlenijach ukrainskich kazackoj staršiny konca XVII – načala XVIII vekov (T. Tairova-Jakovleva) und A „Portrait“ and „Self-Portrait“ of the Borderlands: The Cultural and Geographic Image of „Ukraine“ in the Sixteenth and Early Seventeenth Centuries (N. Yakovenko).

Die Sicht auf die Ukraine von außen und mit unterschiedlicher Perspektive wird zudem in Aufsätzen von N. S. Kollmann: The Deceitful Gaze: Ukraine through the Eyes of Foreign Travelers und L. Wolff: The Encyclopedia of Galicia: Provincial Synthesis in the Age of Galician Autonomy kritisch untersucht.

Schon die Namen der Historikerinnen und Historiker signalisieren, dass ihre Untersuchungen aufschlussreiche Erkenntnisse versprechen, auch wenn die Forschungsfelder nicht neu sein mögen. Und in der Regel werden die Leser auch nicht enttäuscht, weil in den Beiträgen auf Uneindeutigkeiten, Quellenprobleme oder Vorläufigkeiten bisheriger Forschung hingewiesen wird. In anderen Arbeiten werden wichtige Befunde bestätigt oder auch ganz neue Aspekte beleuchtet. Immer aber geht es letztlich um die Frage der Identität bzw. der Identitäten, ihrer Formung durch Tradition und Wandel, Abgrenzung und Aneignung, durch Eigen- und Fremdwahrnehmung sowie entsprechende Zuweisungen unter komplexen politischen und sozialökonomischen Bedingungen. Es geht also um die Ukraine – unter anderem auch um deren Position auf der „mental map“ – weniger als Grenzraum denn als Begegnung- und Diffusionszone, in der meist nur staatliche Intervention Eindeutigkeit und Zuordnung verlangt. So kommen multiple Identitäten zustande als Resultat vielschichtiger Interaktion, die entsprechende Anpassungsleistungen erfordert, auch in Form einer sich ändernden Hierarchie der individuell gewählten Identitäten.

Eine Fundgrube interessanter Beobachtungen und historischer Ereignisse, die in der Regel keine oder wenig Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden haben, weil sie prima vista als von lediglich sekundärer Bedeutung erscheinen mögen, bieten andere Abhandlungen und Aufsätze, die sozusagen fernere Peripherien zum Gegenstand ihrer Darstellung haben. Dazu zählen eine Miszelle von O. Tolochko über den Polovzer-Khan Boniak, Ausführungen zu den jüdischen Frauen der europäischen Frühmoderne ( M. Ros­man), eine Abhandlung über die Schwierigkeiten ukrainischer Immigranten in den USA und Kanada (J. Balan), venezianische Pläne und diplomatische Initiativen in der Mitte des 17. Jh., um Polen und Kosaken zum gemeinsamen Vorgehen gegen das Osmanische Reich zu gewinnen (T. Chynczewska-Hennel) oder auch das polnische Projekt von 1655, in der Ukraine eine Kolonie irischer Soldatensiedler zu gründen, um mit deren Hilfe die Kosaken zu kontrollieren (Y. Fedoruk). Das 17. Jh., das zu Sysyns bevorzugten Forschungsperioden gehört, liefert auch Ju. Mycyk, V. Ostapchuk und Z. Wójcik den Stoff ihrer Beiträge. Ersterer präsentiert einige bisher nicht bekannten Briefe Adam Kysils, während Ostapchuk drei Dokumente aus dem Topkapi-Palast-Archiv in Faksimile und Übersetzung wiedergibt, die belegen, dass neben der Pforte auch lokale Begs wichtige Akteure auf der internationalen Bühne sein konnten. Wójcik wiederum nimmt in seinem Aufsatz den Verteidiger des Jasna-Góra-Klosters in Tschenstochau 1655 gegen die Schweden, den Prior Kordecki, gegen den Vorwurf des Verrats in Schutz. Kurze Texte über eine Ikone in der Kirche von Sysyns Geburtsort Mšanec’ und über ein Autograph der Kiever Prinzessin Anna als Königin von Frankreich stammen aus der Feder von J.-P. Himka bzw. von A. u. D. Poppe. Der nationalen Bewegung im 19. Jh. und der Ukraine während des Ersten Weltkrieges sind Beiträge von M. v. Hagen, B. Klid und D. Saunders gewidmet.

So facettenreich wie die Beiträge zu den vorangegangenen Jahrhunderten sind auch die Aufsätze zum 20. Jh. und zu den Entwicklungen bis zur Gegenwart. Interessante Einblicke in die polnische Gesetzgebung und Praxis zur Verleihung von Wappen und Emblemen an Städte und Gebietskörperschaften in der Westukraine in den 1920er und 1930er Jahre gewährt ein Beitrag von A. Grečylo. A. Kappeler nimmt Hans Koch als Ukrainophilen in den kritisch Blick des Historikers, und D. Marples liefert eine weitere Bestätigung, dass unter den Ukrainern die Kontroverse um die SS-Division Galizien noch keineswegs beendet ist. Die Beliebigkeit, mit der man sich in der Sowjetzeit und danach historischer Jahrestage bedient hat, beleuchtet Y. Isaievych am Beispiel der Städte Kiev und Lemberg, wobei er mit Fug und Recht den Usus staatlicher Institutionen geißelt, sich lieber auf die Konstrukte von Amateuren als die Expertise kritischer Wissenschaften zu verlassen. Schließlich ergänzen ein aufschlussreicher Aufsatz über die Probleme ukrainischer Erinnerungskultur im gegenwärtigen Kanada von F. Swyripa sowie eine Eloge an Frank Sysyn als Herausgeber von U. N. Pasicznyk das Kaleidoskop dieses facettenreichen Sammelbandes.

Die Beiträge der Festschrift sind nach Ansatz, Umfang und Qualität sehr unterschiedlich. Aber auch dort, wo manche zunächst nichts Neues zu bieten scheinen, machen sie Forschungslücken deutlich oder rufen Fragen hervor; aber anregend sind sie alle. Mit der Vielfalt der behandelten Themen wird zudem Frank Sysyn als ein Historiker geehrt, dessen Studien zur Geschichte der Ukraine sich durch vielfachen Perspektivenwechsel und neue Fragestellungen auszeichnen, die allein der Komplexität und Uneindeutigkeit von Identitäten und ethnisch-nationalen Verhältnissen in einer europäischen Region Rechnung tragen können, die man bis heute als Brücke zwischen Ost und West sehen und verstehen kann. Dazu eröffnet die Festschrift interessante Zugänge. Insofern kann sie auch als Lehrbuch für Studierende dienen. Das Buch ist mit einigen wenigen Abbildungen und Faksimiles illustriert. Auf ein Namens- und Ortsregister haben die Herausgeber aber leider verzichtet.

Rudolf A. Mark, Lüneburg

Zitierweise: Rudolf A. Mark über: Olga A. Andriewsky [et al.](ed.): Tentorium Honorium: Essays Presented to Frank E. Sysyn on his Sixtieth Birthday. Edmonton, Toronto: Canadian Institute of Ukrainian Studies Press, 2010. XX, 502 S., Abb. ISBN: 978-1-894865-20-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mark_Tentorium_Honorium.html (Datum des Seitenbesuchs)

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