Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Rudolf A. Mark

 

Veniamin P. Semenov-Tjan-Šanskij: To, čto prošlo [Was geschah]. V dvuch tomach. Tom 1: 1870–1917. Moskva: Novyj chronograf, 2009. 678 S., Abb. ISBN: 978-5-94881-057-7.

Veniamin P. Semenov-Tjan-Šanskij: To, čto prošlo [Was geschah]. V dvuch tomach. Tom 2: 1917–1942. Moskva: Novyj chronograf, 2009. 664 S., Abb. ISBN: 978-5-94881-059-1.

Vater und Sohn Petr. P. und Veniamin P. Semenov-Tjan-Šanskij gehören zu den bedeutendsten russischen Gelehrten, da sie sich nicht nur mit ihren akademischen Leistungen einen Namen gemacht, sondern auch in Politik und Gesellschaft des Zarenreichs bzw. der Sowjetunion eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben: Petr P. als Forscher und Geograph des expandierenden Kaiserreiches sowie als an den Vorbereitungen zur Bauernbefreiung und an der ersten Volkszählung von 1897 beteiligter Wissenschaftler; sein Sohn Veniamin P. als einer der Begründer der modernen Wirtschafts-, Öko- und Anthropogeographie in Russland, der an deren Institutionalisierung in der Sowjetunion er maßgeblich beteiligt war. Aus der Feder dieses Begründers und langjährigen Direktors des Petrograder bzw. Leningrader Geographischen Zentralmuseums liegen nun Erinnerungen vor. Das zweibändige Werk ist die erste komplette Veröffentlichung der Aufzeichnungen Veniamin P. Semenov-Tjan-Šanskijs. Sie brechen wenige Tage vor seinem Hungertod am 8. Februar 1942 im belagerten Leningrad ab. Die Herausgeber und Bearbeiter haben den hinterlassenen Text durch Briefe und Dokumente aus dem Nachlass erweitert.

Die Erinnerungen sind die Fortsetzung der von seinem Vater und dessen Schwester Natalja P. Grot verfassten Memoiren und Familienüberlieferungen, welche die Zeit vom ausgehenden 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts umfassen. Veniamin P. Semenov-Tjan-Šanskij hat mit seinen Aufzeichnungen nicht nur eine sehr dichte und ausführliche Geschichte seiner Familie geschrieben, sondern gleichzeitig ein grandioses Werk über Alltag, Alltagskultur und städtische Gesellschaft des ausgehenden Russländischen Kaiserreiches geschaffen. Es setzt ein mit den Erinnerungen aus Kindheitstagen im Schoße der Familie eines berühmten Gelehrten, der wie kein zweiter das Bild eines Angehörigen der städtischen intelligencija und der Funktionselite des Zarenreiches verkörperte, und endet mit der Entlassung Veniamin P. Semenov-Tjan-Šanskijs im Jahre 1937 aus dem Staatsdienst und der Erfahrung von Blockade und Hunger nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion. Dazwischen wird das lange von Wohlstand, solider gesellschaftlicher Stellung und wissenschaftlichem Renommee der beiden Geographen und ihrer Familien geprägte Leben nachgezeichnet und in einer außerordentlichen Vielfalt an Details dem Leser vor Augen geführt. Sie reicht von den Schilderungen der Wohnverhältnisse und sanitären Einrichtungen in der Hauptstadt, des Lebens auf der Datscha, des Umgang der Familie mit ihren Bediensteten, der Beschreibung von Nachbarn und Nachbarschaftsverhältnissen, den großen gesellschaftlichen Begebenheiten, Kunstausstellungen und anderen kulturellen Ereignissen, die im Leben der Reichshauptstadt stattfanden, bis hin zu Auslandsreisen, Exkursionen und zahlreichen Begegnungen. Auch das Schulwesen und das Universitätssystem, vor allem aber die Entwicklungen in der Welt der Geographen und Naturwissenschaftler werden in fast epischer Breite dargestellt.

Sehr ausführlich geht Veniamin P. Semenov-Tjan-Šanskij natürlich auf die Ge­schicke des von ihm errichteten und geleiteten Museums in Leningrad ein. Er zeigt die relativ spannungsfreie Transformation der überkommenen zur neuen sowjetischen Wissenschaftskultur, die dann ab der Mitte der dreißiger Jahre einschneidenden Veränderungen unterlag. Er selbst konnte als gefragter Spezialist lange seine eigenen Forschungen durchführen, Vorträge halten, Bücher, Karten und Artikel publizieren oder seine eigene Museumskonzeptionen umsetzen, bevor er schließlich anderen, von Moskau verordneten Paradigmen und Konzepten einer marxistisch apostrophierten Wissenschaft folgen musste.

Veniamin P. Semenov-Tjan-Šanskijs Erinnerungen können sowohl als Beitrag zur Geschichte der Geographie als Wissenschaft wie auch als eine Quelle gelesen werden, die vielfachen Aufschluss gibt über Struktur, Selbstverständnis sowie gesellschaftliche und politische Rolle dieser staatstragenden Funktionselite des Zarenreiches, die nicht auf den Wissenschaftsbereich beschränkt blieb. Wie eng sich ihre Kontakte zur Welt von Kunst, Musik und Literatur gestalteten und weit über die Grenzen des Kaiserreichs hinausreichten, wird dem Leser in den Memoiren ebenfalls vor Augen geführt. Gleichzeitig fehlt in ihnen nicht nur jeder politische Diskurs; auch wichtige politische Ereignisse werden mit Ausnahme des Ersten Weltkrieges nur oberflächlich zur Kenntnis genommen und kaum kommentiert. Selbst die Volkszählung von 1897, die ihre wissenschaftliche Qualität weitgehend Veniamin P. Semenov-Tjan-Šanskijs Beharrlichkeit verdankte, wird ziemlich kurz und teils anekdotisch abgehandelt. Auch dessen Gestalt bleibt in der Darstellung blass und ohne explizite Hervorhebung. Auffallend ist zudem die Germanophobie, die Veniamin P. Semenov-Tjan-Šanskij mit nicht wenigen seiner Landsleute vor 1914 teilte, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass der Geograph seine Erinnerungen vom Ende her schreibt, den Tod – von Deutschen ins Land gebracht – vor Augen.

Die sehr ansprechend aufgemachten Bände schließen jeweils mit Anmerkungen und erläuternden Ergänzungen. Der 2. Band (1917–1942) enthält darüber hinaus unter der Überschrift „Der letzte Mohikaner der Humboldtschen Geographie“ eine nützliche und kritische Würdigung der wissenschaftlichen Leistungen Veniamin P. Semenov-Tjan-Šanskijs und eine jeweils knappe Vorstellung seiner wichtigsten Publikationen. Dem folgt ein Verzeichnis seiner Arbeiten und eine Bibliographie der wichtigsten über ihn erschienenen Literatur. Den Schluss bildet ein ausführliches Namensverzeichnis, dessen Umfang von über 100 Seiten nicht nur die weit verzweigten persönlichen Beziehungen und Kontakte der beiden Geographen dokumentiert, sondern auch die Bemühungen der Herausgeber und Bearbeiter, dem Benutzer Bedeutung und Stellenwert der im Wirkungskreis der Familie Semenov erwähnten Personen zu zeigen.

Rudolf A. Mark, Hamburg

Zitierweise: Rudolf A. Mark über: Veniamin P. Semenov-Tjan-Šanskij: To, čto prošlo [Was geschah]. V dvuch tomach. Tom 1: 1870–1917. Moskva: Novyj chronograf, 2009. 678 S., Abb. ISBN: 978-5-94881-057-7.Veniamin P. Semenov-Tjan-Šanskij: To, čto prošlo [Was geschah]. V dvuch tomach. Tom 2: 1917–1942. Moskva: Novyj chronograf, 2009. 664 S., Abb. ISBN: 978-5-94881-059-1., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mark_SR_Semenov_Tjan_Sanskij_To_cto_bylo.html (Datum des Seitenbesuchs)

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