Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Rudolf A. Mark

 

The Holodomor Reader. A Sourcebook on the Famine of 1932–1933 in Ukraine. Compiled and edited by Bohdan Klid / Alexander J. Motyl. Edmonton, Toronto: Canadian Institute of Ukrainian Studies Press, 2012. XLV, 386 S., 1 Kte. ISBN: 978-1-894865-29-6.

Inhaltsverzeichnis:

http://swbplus.bsz-bw.de/bsz392971194inh.htm

 

Die fürchterliche Hungerkatastrophe zu Beginn der dreißiger Jahre in der Ukraine stellt seit über zwanzig Jahren ein zentrales Thema der Forschungen zur ukrainischen Geschichte dar – begleitet von einer anhaltenden Kontroverse über Hintergründe und Wertung des Holodomor. Der vorliegende Reader ist ein neuerlicher Beleg dafür, dass die auch politisch geführte Debatte noch keineswegs zu Ende ist, d. h. die Frage, ob es sich dabei um einen bewusst von der sowjetischen Führung unter Stalin herbeigeführten Genozid an den Ukrainern handelt oder ob die Hungersnot „was conceived and fashioned on the basis of political reasoning and not of ethnic or racial ideology“ (S. XLIV), wie Nicolas Werth von den Herausgebern zitiert wird.

Die nordamerikanischen Historiker Klid und Motyl wollen mit ihrem Sammelband nicht die wissenschaftliche Auseinandersetzung um eine weitere Erklärungs- und Deutungsvariante bereichern, sondern eine Lücke schließen, indem sie für die englischsprachige Leserschaft ein Quellenbuch erstellten, das die umfangreichen, stetig zunehmenden Forschungsergebnisse in handlicher Form präsentieren soll. Um Nicht-Fachleuten grundlegendes Wissen und vertiefende Einsichten zu vermitteln, wurden daher zahlreiche Studien, Quellentexte und literarische Bearbeitungen des Thema ausgesucht und zu einer Publikation zusammengestellt.

Einer erläuternden Einführung der Herausgeber, die nicht verhehlen, dass es ihnen darum geht, der Leserschaft die Wertung des Holodomors als Genozid nahe zu bringen, gibt die Deutungsmuster vor. Es sei zu vermuten, kann man hier lesen, dass sich die Genozid-These durchsetzen werde, „because the expert opinion is formed on the basis of both evidence and the normative and political zeitgeist.“ (S. XXXI). Der Reader demonstriere, dass die Belege für die Genozid-These überwältigend seien, lediglich Ewiggestrige „diehard skeptic“ (S. XXXI) und politische Agitatoren sähen diese historische Tragödie noch anders.

Die Kompilatoren haben sich viel Mühe gemacht und umfangreiche Texte zusammengetragen und – wo nötig – aus Fremdsprachen übersetzt. Im ersten Kapitel Scholarship werden ein Dutzend wissenschaftliche Artikel zum Holodomor aus der Feder prominenter Forscher von R. Conquest über J. E. Mace, St. Kulčyc’kyj und Ju. Šapoval bis zu N. Werth und O. Volovyna wiedergegeben. Diesen folgen unter der Überschrift Legal Assessments, Findings, and Resolutions Gesetzestexte der Verchovna Rada, Resolutionen der Vereinten Nationen und juristische Untersuchungen etc. zur Frage des Genozids und der völkerrechtlichen Diskussion. Kapitel drei und vier bringen Auszüge aus Augenzeugenberichten, Erinnerungen, Zeugenaussagen und Briefen. Den umfangreichsten Abschnitt bildet dann ein fünftes Kapitel, das Dokumente und Materialien der verantwortlichen Akteure in den sowjetischen Regierungs- und Parteiorganen sowie Geheimdienstmeldungen umfasst. Auszüge aus der Berichterstattung für die Außenministerien in London, Berlin, Rom und Warschau sowie sowjetische Dementis ergänzen diese Sammlung. Es handelt sich dabei fast ausschließlich um Exzerpte aus schon länger der Öffentlichkeit zugängigen Publikationen. Das sechste und letzte Kapitel bietet den Leserinnen und Lesern Auszüge aus literarischen Bearbeitungen des Themas Hunger und Massenvernichtung, wobei mit G. Orwells Animal Farm der rein ukrainische Kontext verlassen und die allgemeine menschlich-existentielle Dimension von Bedrohung und Zwang angesprochen wird.

Anders als Klid und Motyl behaupten, belegen die von ihnen ausgesuchten wissenschaftlichen Beiträge keinesfalls die Genozid-These, für die gemäß den Kriterien der UNO Intentionalität und eine Vernichtungsabsicht aus ethnisch-nationalistischen bzw. rassistischen Zielsetzungen die Voraussetzungen bilden. Dafür lassen sich bis dato keine unumstößlichen Beweise finden. Dass die Ukrainer seit Petljuras UNR immer unter dem Generalverdacht standen, antibolschewistische Aversionen zu pflegen und separatistische Absichten zu hegen und dass die ukrainische Bauernschaft privates Wirtschaften viel höher schätzte als die russische, sie daher den Sowjetisierungen und Kollektivierungen viel stärkeren Widerstand entgegensetzte als andere Gruppen, machte sie zwar zu Feinden der bolschewistischen „Modernisierungen“, hatte aber mit Rassismus nichts gemein.

Dessen ungeachtet zeigen die Untersuchungsexzerpte sehr deutlich, welche Qualität die Forschung zum Holodomor inzwischen erreicht hat und welche vielfältigen Aspekte des Phänomens analysiert und beleuchtet worden sind. Jede einzelne Phase der Hungersnot ist in ihren Besonderheiten erforscht worden. Und alle Autorinnen und Autoren sind sich einig, dass der Holodomor sowohl bezüglich der Opferzahlen wie seiner rigorosen Instrumentalisierung durch die verantwortlichen sowjetischen Täter eine auf dem Territorium der UdSSR singuläre Erscheinung war. Darüber sind sich auch die in der deutschsprachigen Osteuropaforschung tätigen Wissenschaftler einig. Ihre Arbeiten wurden von Klid und Motyl weitestgehend ignoriert, was sicherlich den in den USA abnehmenden Fremdsprachenkenntnissen und weniger der kritischen Haltung der deutschen historischen Forschung gegenüber der Genozid-These geschuldet ist.

Rudolf A. Mark, Lüneburg

Zitierweise: Rudolf A. Mark über: The Holodomor Reader. A Sourcebook on the Famine of 1932–1933 in Ukraine. Compiled and edited by Bohdan Klid / Alexander J. Motyl. Edmonton, Toronto: Canadian Institute of Ukrainian Studies Press, 2012. XLV, 386 S., 1 Kte. ISBN: 978-1-894865-29-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mark_Klid_The_Holodomor_Reader.html (Datum des Seitenbesuchs)

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