Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Rudolf A. Mark

 

Kerrin Gräfin von Schwerin: Wissen und Kontrolle. Das Große Spiel in Asien im 19. Jahrhundert. Frankfurt, Berlin, Bern [usw.]: Lang, 2012. 377 S., Abb. ISBN: 978-3-631-63587-2.

Als Great Game wurde und wird in der Regel die Machtkonkurrenz zwischen dem Russländischen Reich und dem British Empire im 19. Jahrhundert in Zentralasien bezeichnet, wobei sich die direkte Auseinandersetzung zwischen den beiden Großmächten auf einen relativ überschaubaren Raum beschränkte. Die Verfasserin der vorliegenden Arbeit weitet jenes Aktionsfeld unter dem TitelGroßes Spiel“ auf fast den gesamten nordasiatischen Teil des Kontinents aus. Sie will sich damit nicht an den postkolonialen Theorien versuchen, wie sie eingangs festhält, sondern sich an die Diskussion über die koloniale Strategie der Beschaffung von Informationen und Wissen über den Orient und die Konstruktion von Differenzen zwischen Ost und West im konkreten Zusammenhang mit dem Great Game anschließen. Um den komplexen Aspekten und unterschiedlichen Phasen der Mächteauseinandersetzung gerecht zu werden, ist die Darstellung in vier größere Teile untergliedert.

Im ersten Abschnitt wird das Britische Kolonialreich unter den Aspekten Sicherheitspolitik, Informationsbeschaffung über Reiseberichte, Orientalismus in Architektur und bildender Kunst, orientalistische Wahrnehmungen der Kolonialgesellschaft und Konstruktion von Wissen untersucht. Auf Wirtschafts- und Handelsinteressen sowie die Funktionsweise der britischen Verwaltung in Indien wird im Weiteren eingegangen. Der zweite Teil hat unter der ÜberschriftGreat Game“ dessen Genese und die Rolle Persiens und Afghanistans als Schauplätze zum Gegenstand und geht in zwei Überblickskapiteln auf die Geschichte der Beziehungen Russlands mit Asien und dierussische Durchdringung Asiensein. Hier erfährt der Leser u.a., dass dierussischen Fürstentümer Smolensk, Nowgorod und Kiewdreihundert Jahre den Mongolen untertan gewesen seien (S. 201), dass Sibirien zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Region nutzloser asiatischer Wüsteneien betrachtet worden sei, die Dekabristen für eine dem Volk verständliche Sprache eintraten oder dass die Bezeichnung Afghanistan vermutlich erst von den Briten erfunden worden sei (S. 171). Russlands Vordringen nach Zentralasien setzt mit dem Wendepunkt 1856 ein, nach der als Katastrophe empfundenen Niederlage im Krimkrieg und als Kompensation für die damit verbundene Demütigung. Gräfin Schwerin stützt sich hier ausschließlich auf die Ergebnisse der älteren Forschung und führt die hinlänglich bekannten Argumente an: Frustration, Prestigedenken und Langeweile der Militärs, wirtschaftliche Interessen etc., ohne Erkenntnisse eigener Recherche zu präsentieren. Folgt man ihrer Darstellung, so wäre Fürst Gorčakov,ein milder zu Kompromissen neigender Kosmopolit(S. 223) gegen die Expansion gewesen, wobei sie sich auf dessen Zirkulardepesche von 1864 beruft. Sie glaubt nämlich, dass aus Kostengründen die Eroberung gar nicht vorgesehen gewesen sei, weil hier die Russen so ökonomisch wie die Briten gedacht hätten, die keine Eroberung ohne vorherige Kosten-Nutzen-Rechnung unternommen hätten. Daher habe auch der russische Außenminister im guten Glauben geschrieben, dass sich dieGrenze stabilisieren würde(S. 227). Das ist nun eine etwas überraschende Behauptung, denn hätte die Verfasserin den Text zu Ende gelesen, wäre sie eines Besseren belehrt worden. Wenig später schreibt sie dann wiederum, dass mit der Eroberung Taškents deutlich wurde, dass die Russen dochentschlossen waren, in den Khanaten Fuß zu fassen(S. 233). Auch dass 1878 russische diplomatische und militärische Aktivitäten in Kabul den Zweiten Britisch-Afghanischen Krieg ausgelöst hätten, ist in so verknappter Diktion zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen. Gleiches gilt für Aussagen wie die, nach der Schlacht von Geok-Tepe habe General Skobelev derEinfachheit halberdie von den Turkmenen bewohnten Grenzgebiete Persiens dem Russländischen Reich eingegliedert. Das mag flott formuliert sein, ist aber wie manche andere Darstellung einfach nicht richtig: Erste militärische Kontakte zwischen Russland und Chiva haben nicht im 19. Jahrhundert begonnen, sondern zu Beginn des 18. Jahrhunderts und nota bene mit dramatischen Folgen; auch war General Perovskij 1839 mit seinem mehr als 5.000 Mann starken Expeditionskorps samt Belagerungsartillerie und Spezialausrüstung nicht zu einer Strafaktion gegen das Khanat von Chiva losgezogen, sondern, um den choresmischen Herrscher zu stürzen, durch einen russischen Untertanen zu ersetzen, russische Konsulate zu errichten u.a. mehr. Diese Kenntnis ist nicht nur aus den Quellen zu gewinnen, sondern längst auch aus der einschlägigen Literatur, die wie etwa eine Arbeit Chalfins von der Gräfin sogar genannt wird.

Afghanistan als Pufferstaat wird im dritten Teil behandelt, der folgerichtig mit dem Zweiten Britisch-Afghanischen Krieg einsetzt, die Ära des Khans Abdurrahman beleuchtet, auf die Grenzziehungen und die Penjdeh-Krise eingeht. Letztere wird von der Verfasserin in ihrer Bedeutung für die internationalen Beziehungen jener Zeit gänzlich verkannt. Sie beruft sich auch hier auf die Sekundärliteratur, während ein Blick in die Akten gezeigt hätte, dass das von der Krise betroffene internationale Aktionsfeld von Port Hamilton/Korea über St. Petersburg, Kalkutta, Konstantinopel und Wien bis Paris und Berlin reichte. Es war der Kulminationspunkt des Great Game, der die allmähliche Wende in den Beziehungen zwischen dem British Empire und dem Zarenreich einleitete. Schließlich werden im vierten TeilThe Great Game auf dem Dach der Weltdie Gebirgsregionen Zentralasiens zum Gegenstand der Untersuchung. In einzelnen Kapiteln wird die Erkundung von Himalaya und Trans-Himalaya, die Vermessung Kaschmirs und die Rolle der Pandits bei der Exploration Tibets mit ihren besonderen Strategien und Messtechniken kurz skizziert. Ausführlicher geht die Verfasserin dann den Entwicklungen in Ostturkestan während der Ära Yakub-Beks, den Entdeckungen im Pamir, der britischen Tibet-Politik und den britisch-russischen Spannungen im Nordwesten der sich dort berührenden imperialen Peripherien nach. Im Zentrum stehen dabei einige prominente Entdecker wie die Brüder Schlagintweit sowie die als Giganten apostrophierten Forscher Ney Elias und Nikolaj Prževalskij. Dass Gräfin von Schwerin Elias etwas ausführlicher vorstellt als andere Autoren ist berechtigt und begrüßenswert, ebenso, dass sie die britische Tibet-Politik bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit allen ihren Windungen sowie die komplizierten Regelungen der tibetanischen Eigenstaatlichkeit zwischen Suzeränität und Souveränität erhellt.

In ihrem Schlusswort zieht die Südasien-Historikerin das Fazit, dass, obgleich Perser, Afghanen und Tibeter die Verlierer des Great Game gewesen seien, es weder Russen noch Briten gelungen sei, jene ihrer Kontrolle zu unterwerfenein mit Blick auf Afghanistan und Persien etwas zu apodiktisches Urteil. Auch ihr Schluss, dass das britische Imperium vor allem aus starken wirtschaftlichen Interessen zur Expansion getrieben worden sei, während das russische Vordringen nach Zentralasien die Durchsetzung imperialer und außenpolitischer Ziele verfolgt habe, wobei Recherche und Wissenschaft eine geringe Rolle gespielt hätten, entspricht zwar auch den Befunden der Darstellung, ist aber sehr zu hinterfragen.

Die Schlussbetrachtung endet mit einem Ausblick, der bis in die Gegenwart Indiens und Afghanistans reicht, in der die Historikerin weitere Belege dafür findet, dass die westlichen Regierungen trotz militärischer Überlegenheit hilflos seien, weil sie wie ihre historischen Vorläufer die asiatischen Gegner nicht verstünden.

Das Buch hinterlässt beim Leser einen zwiespältigen Eindruck. Offensichtlich ist es für einen größeren Leserkreis und nicht unbedingt für Fachleute geschrieben worden. Jedenfalls fehlt ein Überblick zum Stand der Forschung. Auch eine Diskussion des Begriffs Great Game bzw. Großes Spiel und seine Verwendung durch die Verfasserin wäre wünschenswert gewesen. Die Arbeit bietet insgesamt einen guten Einstieg in die Geschichte der imperialen Expansion der Briten in Zentralasien und einen Überblick über die von Indien aus betriebene Erkundung und Akquirierung von Wissen als Strategie zur Kontrolle und Beherrschung noch unerschlossener kolonialer Räume. Dagegen weist die Darstellung des russischen Widerparts der Briten einige Defizite auf. Obwohl Gräfin von Schwerin in der Arbeit weit in die Geschichte Russlands zurückgreift, ist ihr z.B. gänzlich entgangen, dass Zentralasien nicht erst infolge der Niederlage im Krimkrieg, sondern schon seit Peter I. ein Ziel systematischer russischer Expansionsbestrebungen gewesen war und dass ganz im Gegensatz zu ihrem Diktum die wissenschaftliche Erkundung und Erschließung eine entscheidende Rolle gespielt haben. Allein zwischen 1700 und 1860 wurden von Russland mindestens achtzig Expeditionen und Erkundungsmissionen in Marsch gesetzt, um Land und Leute, Handel und Wandel in der Steppe und in Transoxanien sowie die geographischen Verhältnisse und vor allem die Anmarschrouten bis Indien zu erkunden. Zugegebenermaßen sind diese Unternehmen noch längst nicht alle wissenschaftlich aufgearbeitet. Aber genügend Hinweise lassen sich dazu auch in der einschlägigen Literatur finden. Die vorliegende Arbeit ignoriert aber vollkommen die auf Russisch und Deutsch erschienenen Forschungsergebnisse zum Thema.

Rudolf A. Mark, Lüneburg

Zitierweise: Rudolf A. Mark über: Kerrin Gräfin von Schwerin: Wissen und Kontrolle. Das Große Spiel in Asien im 19. Jahrhundert. Frankfurt, Berlin, Bern [usw.]: Lang, 2012. 377 S., Abb. ISBN: 978-3-631-63587-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mark_Graefin_von_Schwerin_Wissen_und_Kontrolle.html (Datum des Seitenbesuchs)

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