Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Rudolf A. Mark

 

Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hrsg. von Martin Aust / Frithjof Benjamin Schenk. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2015. 505 S. = Imperial Subjects, Autobiographik und Biographik im imperialen Kontext, 1. ISBN: 978-3-412-50161-7.

Inhaltsverzeichnis:

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Der vorliegende Band versammelt die Beiträge zweier internationaler Tagungen, mit denen ein neues, von der DFG und dem Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Forschungsprojekt 2013 und 2014 seinen Anfang nahm. Im Rahmen des Projektes, an dessen Ausarbeitung auch Robert Luft (Collegium Carolinum) und Maurus Reinkowski (Basel) beteiligt waren, soll eine neue Dimension der Imperienforschung erschlossen werden. Erkenntnisleitendes Interesse bildet die Frage, welche Bedeutung Imperien für das Selbstverständnis ihrer Untertanen hatten und welche Rolle imperiale Biographien für das Funktionieren von Herrschaft und Kommunikation in Vielvölkerreichen spielten.

Die Herausgeber und Initiatoren wollen mit ihrem Projekt ein neues, dynamisches Forschungsfeld schaffen. Zum einen soll der Blick auf die Bewohner, die Untertanen (subjects) der Imperien und deren „Lebenswege und Biographien“ gerichtet werden und zum zweiten soll das Untersuchungsinteresse den „Diskursen der Selbstbeschreibung und Selbstverortung von Menschen“, gelten, die „in Selbstzeugnissen Bilder des eigenen ‚Ich‘ entwarfen und dokumentierten“ (S. 9). Es geht konkret um Ich-Entwürfe von Repräsentanten imperialer Eliten und die Frage, ob und wie sie sich im Zuge von Globalisierung, Reformen, Umbrüchen und anderen Herausforderungen neu orientierten, ihre Rolle neu definierten, neue Identitäten entwickelten und möglicherweise vom reinen Untertanen zum bewussten Akteur, zum handelnden Subjekt wurden.

Ausgehend vom New Imperial History-Paradigma, dem nach auch Imperien imagined communities ohne wirklich stabile Ordnungssysteme darstellen, und weil sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine „Konjunktur autobiographischen und biographischen Schreibens und Publizierens“ (S. 14) beobachten lasse, liegt für die Herausgeber die Frage nahe, inwieweit sich in den publizierten „individuellen Lebensgeschichten“ auch das Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit den vielfältigen strukturellen Wandlungsprozessen spiegele. Daher bilden autobiographische Schriften und andere Ego-Dokumente den Quellenkorpus der Untersuchungen. In deren Zentrum steht die Autobiographik bzw. die „autobiographische Praxis“, ein Konzept das von Jochen Hellbeck entwickelt worden ist. Es zeichnet sich, so die Herausgeber, durch eine autobiographische Texte um andere Medien der „Ich“-Konstruktion ergänzende Heuristik aus, die zudem soziale und kulturelle Prozesse als einen komplexen Kommunikationszusammenhang zu erfassen und zu analysieren versucht. Der Sammelband will dazu die ersten Fallstudien liefern.

Untergliedert ist das Buch in sechs Abschnitte. Im ersten, grundlegenden Artikel arbeitet Volker Depkat unter der Überschrift: Doing Identity: Auto/Biographien als Akte sozialer Kommunikation die Auto/ Biographieforschung im Zeichen des Cultural Turn überzeugend heraus, dass Biographie und Autobiographie als Formen des „Life writing“ miteinander verschränkt sind, d. h. zwei verschiedene und doch auf einander bezogene Versuche kultureller Sinnstiftung und sozialer Selbstbeschreibung darstellen. Sie müssen demnach als hochgradig kontroverse und raum-zeit-induzierte Akte sich wandelnder sozialer Kommunikation und Identitätskonstruktion verstanden werden. Im Weiteren geht Depkat auf die Problematik von Autobiographien als eine Quellengattung ein, von der man keine wertfreie, objektive Darstellung der Vergangenheit erwarten dürfe. Diese Erkenntnis ist natürlich nicht neu, führt aber Depkat zu der (auch nicht ganz neuen) Forderung, dass Historiker Autobiographien als Quellen für kulturwissenschaftliche Fragestellungen lesen sollten, um historisch-biographische Kontexte zu rekonstruieren und die Referen­tia­li­tät auf eine äußere historische Wirklichkeit zu erhellen. Schließlich setzt sich Depkat auch kritisch mit der historischen Sozialwissenschaft und deren Verdikt gegen jede Form von Biographieforschung auseinander. Er weist dabei zu Recht auf die seit der Jahrtausendwende sich neu, d. h. vor allem interdisziplinär ausrichtende Biographik hin, die, auf der Grenze von Geschichtsschreibung und Literatur angesiedelt, auf der „komplexen Beziehung zwischen dem biographischen Subjekt, dem Biographen, seiner Erzählung und den Lesern“ (S. 55) beruhe. Der Historiker habe daher die „binäre Opposition von Fakt und Fiktion“ (S. 57) zu überwinden. Wie dies im Einzelnen zu geschehen habe, wird in den nachfolgenden Kapiteln des Buches exemplifiziert.

Im zweiten Abschnitt untersucht Nora Mengel die zwei biographischen Projekte: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, 1856–1891, und Russkij Biografičeskij Slovar, 1886–1891, als „Werkstätten imperialer Narrative“. An der Darstellung Kossuths und Széchenyis sowie Chmel’nyc’kyjs und Schamils gelingt es der Verfasserin zu zeigen, wie durch Legendenbildung bzw. Herauslösung etwa des Kosakenhetmans aus dem national-ukrainischen Kontext affirmative imperiale Narrationen produziert wurden. Spät­osma­nische und postosmanische autobiographische Praxis sind dann Gegenstand einer faktendichten Abhandlung aus der Feder Hans-Lukas Kiesers. Er charakterisiert spätimperiale Ego-Dokumente, die mit der Jungtürkischen Revolution bzw. seit Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschienen sind. Sie sind Ausdruck der zahlreichen Kataklysmen, in deren Folge das Osmanische Reich untergegangen ist. Da auch  nichttürkische Autobiographien, Memoiren und Berichte Berücksichtigung finden, entsteht ein facettenreiches Bild, das von der jungtürkischer Rechtfertigungsliteratur bis hin zu kurdischen Memoiren oder neu verfassten Narrativen einstiger griechischer Untertanen des Osmanischen Imperiums reicht. Kiesers Beitrag belegt zudem, dass sich die spätosmanisch-nachosmanische autobiographische Praxis durch ihre nach wie vor „ungebrochene Aktualität“ von den Praktiken in den anderen untergegangenen Reichen unterscheidet. Der osmanische Kataklysmos ist demnach bis heute nicht bewältigt, die Zukunft des Nahen Ostens eine offene Frage.

Unter der Überschrift ImperiJa / ‚Ich‘ und Imperium geht Denis Sdvižkov der Frage der autobiographischen Praktiken im Zarenreich zwischen 1830 und 1860 nach. Er versucht, eine Typologie des imperialen Selbsts der Eliten zu erstellen. Wie die von ihm herangezogenen Tagebücher und andere Selbstzeugnisse belegen, veränderte sich im genannten Zeitraum das Verhältnis zwischen Ich und Imperium. Der mit der Person des Kaisers verbundene Begriff des Imperiums wurde entpersonalisiert, weil sich das autobiographische Ich zunehmend nicht mehr der imperialen, sondern der nationalen Gemeinschaft zugehörig zu fühlen begann. Selbst die unteren Schichten, zeigen Sdvižkovs Beispiele, gingen unter dem Signum der narodnost auf Distanz zum nichtrussischen Vielvölkergemisch. Die Autobiographien spiegeln also die dynamischen Entwicklungen des imperialen Models im 19. Jahrhundert und dessen beginnende Krise im nationalen Zeitalter wider.

In ihren Streiflichtern zu den Autobiographien der k. (u.) k. Hochbürokratie zeigt Waltraud Heindl, dass die Selbstzeugnisse österreichischer bzw. österreichisch-ungarischer Beamten trotz der Unterschiede ihrer Verfasser gemeinsame Merkmale besitzen. Sie folgen traditionellen Mustern und scheinen einem bestimmten Wertekanon verpflichtet gewesen zu sein. Der Vergleich mit Selbstzeugnissen z. B. naher Familienmitglieder und Kollegen demonstriert anschaulich, so die Autorin, wie unzuverlässig und unsicher die Aussagen von Autobiographien tatsächlich sind: Als dem Kaiser per Eid persönlich verpflichtete Beamte zeigten sie eine natürliche Scheu, Probleme der vielfachen Wandlungsprozesse und die begleitenden Konflikte offen zu thematisieren. Sie überspielten ihr Dilemma durch eine spezifische Erinnerungskultur und die Konstruktion eines Selbstbildes, das die Staatsdiener als „klug handelnde, sinnvolle, staatserhaltende Kraft, ja tragende Säule der Monarchie“ (S. 156) präsentierte.

Der dritte Abschnitt Das imperiale Ich zwischen Dienst und Profession umfasst vier sehr aufschlussreiche Studien. Ulrich Schmid liefert in seinem Beitrag über Repräsentanten der weltlichen und der geistlichen Eliten anschauliche Beispiele dafür, wie das russländische Imperium als subjektbildende Kraft sowohl positiv als auch negativ wirken konnte. Hier wird dem Leser die Produktivität eines interdisziplinären Analyseansatzes mustergültig vor Augen geführt, weil etwa, wie Schmid zeigt, ein autonomes Subjekt „nur im geschützten Reservat der Romanliteratur“ seinen Platz hatte. Außerhalb des rein literarischen Bereiches bleiben in der Regel Imperium und Imperator die maßgeblichen Referenzen. Carola Cordin zeigt anhand der autobiographischen Praxis von Juristen der späten Zarenzeit, wie in Memoiren autobiographische Reflexionen festgehalten werden – als eine Art „Interessenvertretung zum Schreibzeitpunkt“ (S. 186). Sie wertet diese wohl zu Recht als Ausdruck einer Professionalisierung der noch jungen Zunft moderner russischer Juristen und ihrer Rolle im Kontext sich formierender zivilgesellschaftlicher Strukturen. Unter der Überschrift Bureaucratic Diaries and Imperial Experts demonstriert Peter Holquist am Beispiel der Erinnerungen und anderer Selbstzeugnisse von Fedor Martens, Dmitrij Miljutin und Petr Valuev, wie sehr deren Tagebücher eher inoffiziellen Darstellungen ihrer dienstlichen Obliegenheiten gleichen als Aufzeichnungen individuellen Befindens. Daher bezeichnet er diese Texte als „Bureaucratic Diary“. Holquist kommt in seiner Analyse schließlich zu dem Befund, dass die betrachteten Personen ihre Untertanenrolle im Wirkungskreis des Imperiums nicht in Frage stellten. Ein Beitrag Barbara Hennings beleuchtet am Fall eines mittleren osmanischen Beamten kurdischer Provenienz, wie eine Karriere trotz Mobilität, Ehrgeiz und Loyalität zum Imperium am Kollektivverdacht gegenüber Herkunft und Familie scheitern konnte.

Im Abschnitt: Ich-Suche an der imperialen Peripherie sind Selbstverortung und Bedeutung persönlicher Erfahrungen imperialer Ich-Entwürfe in verschiedenen Peripherien Gegenstand der Untersuchung. Betrachtet werden von Marija Đokić die schillernde Figur des serbischen Patrioten und kaisertreuen Beamten Đorđe Stratimirović, von Matthias Golbeck der die Interessen Russlands in Ostturkestan erfolgreich vertretende Konsul Nikolaj Petrovskij, von Christian Marchetti die Habsburger Ethnographen bzw. Volkskundler Carl v. Czoernig und Raimund F. Kaindl sowie der Paläontologe und Albanologe Franz Baron Nopcsa. So unterschiedlich Profession, Herkunft und Aktionsfelder diese imperial subjects auch waren, die Analysen ihrer Selbstzeugnisse und Biographien machen den Einfluss peripherer Befindlichkeiten und Herausforderungen deutlich – als Erfolg wie als Misserfolg.

Das Kapitel: Autobiographik imperial – transimperial – national umfasst zwei Beiträge. Alexis Hofmeister untersucht die autobiographische Praxis vor dem Hintergrund jüdischer Identität in den drei Kaiserreichen. Er kommt dabei nicht ganz unerwartet zu der Erkenntnis, dass der die Imperien erfassende soziale Wandel nicht ohne Einfluss auf die Selbstzeugnisse jüdischer Menschen blieb. Einschnitte und Zäsuren auf ihrem Lebensweg führten zu Reflexionen und Versuchen der Selbstversicherung – mit Blick auf das eigene jüdische Sein wie auf das nichtjüdische Publikum. In den Texten findet daher eine Auseinandersetzung mit den erlebten Veränderungsprozessen statt, die zugleich eine Transformation der traditionellen jüdischen Erfahrungswelten bedeuteten. Deren Sinnhaftigkeit wurde religiös, sozial und kulturell sowie durch den zunehmenden Antisemitismus in Frage gestellt. Jens Herlth demonstriert in seinem Beitrag über die Erinnerungen des polnischen Gutsbesitzers Tadeusz Bobrowski, wie sich in den ukrainischen Gouvernements des russischen Teilungsgebietes der Rzeczpospolita die Entwicklungsmöglichkeiten der Polen verengten. Bobrowski zufolge trugen dafür sowohl die polnische Minderheit als auch die russische Staatsmacht Verantwortung. Bobrowski, so Herlths Befund, schrieb seine Memoiren, um die verpassten Chancen zu kritisieren, die das Imperium Russen, Polen und den von letzteren lange unterdrückten Ukrainern hätte bieten können. Der Text lässt aber keine aktive Programmatik erkennen, sondern war wohl eher Bobrowskis Abgesang auf eine vor dem Januaraufstand noch für möglich gehaltene Lösung der polnischen Frage im Rahmen des Russländischen Imperiums.

Der Autobiographik nach dem Zerfall der Reiche ist der letzte Abschnitt gewidmet. Murat Kaya beschreibt, wie bis 1914 die westlichen Interventionen im Osmanischen Reich maßgeblich zur Genese der jungtürkischen „Geisteshaltung“ beigetragen und den in der Türkei weit verbreiteten Skeptizismus gegenüber Europa bewirkt hätten. Er wird von Kaya etwas simplifizierend als „Wesenskern der kollektiven Erinnerung der türkischen Elite“ und in Form des „Sèvres-Syndroms“ als „Merkmal des türkischen Nationalismus bis heute“ (S. 451) apostrophiert. Die osmanisch-armenische Autobiographik zwischen Heimatland und Diaspora ist anschließend Gegenstand einer facettenreichen, profunden Studie von Elke Hartmann. Ihr gelingt es, die komplexe Wechselwirkung von Verlust und Erinnerung in der literarischen Ausprägung unterschiedlicher autobiographischer Praktiken zu erfassen und zu verdeutlichen, wie die „diasporale Perspektive“ versucht, plurale, d. h. transimperiale und transnationale Identitäten zu integrieren. Um Identität und Epochenbruch geht es im Beitrag von Franziska Thun-Hohenstein. Sie zeigt am Beispiel von Selbstzeugnissen adliger Opfer des Stalinismus, wie in den Texten Herkunft und Zugehörigkeit zu einer zerstörten Daseinsform und vergangenen Gesellschaftskultur beschwören werden. Das erinnerte russländische Imperium wird auch durch die Sprache zurückgeholt, als Akt der „Verortung in der einst in der Kindheit vertrauten Welt“ (S. 505).

Die Vielfalt der Fallbeispiele und methodischen Ansätze der in dem Band versammelten Studien ist beeindruckend. Die meisten sind konzise und schlüssig und reflektieren den Stand der Forschung. Der eine oder andere Beitrag hätte aber einen aufmerksamen Lektor verdient. Nicht alle der produzierten Befunde sind neu oder überraschend, aber alle erhellend. Sie regen zu weiteren Studien an. Wenn die Herausgeber die Erforschung biographischer und autobiographischer Praktiken und deren heuristischen Wert unter Beweis stellen wollten, so ist ihnen das gelungen. Es ist vor allem der beobachtete interdisziplinäre Ansatz, der, wie andere Studien zuvor schon gezeigt haben, erfolgversprechend ist. Man kann den Band nur uneingeschränkt empfehlen.

Rudolf A. Mark, Hamburg

Zitierweise: Rudolf A. Mark über: Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hrsg. von Martin Aust / Frithjof Benjamin Schenk. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2015. 505 S. = Imperial Subjects, Autobiographik und Biographik im imperialen Kontext, 1. ISBN: 978-3-412-50161-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Mark_Aust_Imperial_Subjects.html (Datum des Seitenbesuchs)

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