Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e/reviews 7 (2017), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Hans-Christian Maner

 

Galizien als Kultur- und Gedächtnislandschaft im kultur- und sprachwissenschaftlichen Diskurs. Hrsg. von Anna Hanus / Ruth Büttner. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2015. 458 S., 13 Abb. = Studien zur Text- und Diskursforschung, 10. ISBN: 978-3-631-65641-9.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1071327178/04

 

„Galizien ist in“. Dieses Diktum, mit dem ich 2005 einen Beitrag einleitete und das aus dem Jahr 2002 stammt, besitzt nach wie vor eine unverbrüchliche Gültigkeit, wie auch der hier zu besprechende Sammelband belegt. Dieser ist das Ergebnis eines internationalen interdisziplinären Projekts zu Galizien als Kultur- und Gedächtnislandschaft, das aus einer Sommerschule und einer Tagung im südostpolnischen Rzeszów im September 2013 bestand. Ein Schwerpunkt des Bandes, dessen Autoren aus Polen, der Ukraine, Österreich und Deutschland stammen, liegt in der Beleuchtung von Aspekten der Geschichte Westgaliziens, u. a. auch der ruthenischen und deutschen Bevölkerung der polnischen Karpaten.

Neben einem kleinen Vorwort und einer knappen Einleitung enthält der Band 22 unterschiedlich lange Beiträge, die in drei Abschnitte mit einer kulturhistorischen, einer literatur- und einer sprachwissenschaftlichen Perspektive untergliedert sind. Von Galizien als historischer Region unterschiedlicher Ethnien ausgehend, fragt der Sammelband nach literarischen Konstruktionen divergierender polnisch-ukrainischer Erinnerungskulturen (Stichwort: Galizien als Gedächtnisort) sowie nach Strukturen vergangener und gegenwärtiger Lebensverhältnisse (Stichwort: Galizien als Bildungslandschaft). Anregend ist schließlich der Hinweis, neben den Erinnerungen ehemaliger jüdischer und armenischer Bewohner auch nach der Rolle Galiziens im Gedächtnis ungarischer Bevölkerung zu suchen. Dieses Desiderat gilt es in der Tat noch einzulösen.

Die Einleitung bündelt die Beiträge, bleibt aber angesichts der doch zahlreichen Untersuchungen zu Galizien nicht nur als real existierendem Geschichtsraum, sondern auch als Konstrukt und Diskurs eine notwendige Einordnung dieser Publikation in die Forschungslandschaft zu Galizien schuldig.

Die kulturhistorischen Beiträge beinhalten viel Bekanntes, wobei Neues insbesondere in Details zu finden ist: die konkurrenz- und spannungsbehafteten Verhältnisse von Polen und Ruthenen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Rahmen ethnischer Nachbarschaften und kollektiver Identitätskonstruktionen (Gerhard Besier und Kata­rzy­na Stokłosa), die Aktivitäten der elf polnischen Sozialisten im Wiener Reichsrat zwischen 1897–1918 (Adam Stanisław Czartoryski) oder die Bestrebungen der ukrainischen Nationalbewegung für die Errichtung einer ukrainischen Universität in Lemberg in den ersten vierzehn Jahren des 20. Jahrhunderts (Adrian Mitter). Neue Ansätze scheinen auf bei der Betrachtung der regionalen und kulturellen Bedeutung des schlesisch-galizischen Industriekomplexes Bielitz und Biala (Agnieszka Dudek) und der Auswanderung zahlreicher Menschen aus Galizien nach Südamerika im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (Elisabeth Janik) und deren Einfluss auf Dorfgemeinschaften in Ostgalizien (Mat­thias Kaltenbrunner). Drei Aufsätze wenden sich erinnerungskulturellen Aspekten zu und beleuchten die vielschichtigen Erinnerungsspuren und deren Niederschlag in touristischen Routen in Polen insbesondere nach 1990 (Ruth Büttner), die Besonderheiten des Umgangs mit der jüdischen Vergangenheit Galiziens nach 1990 in Polen und der Ukraine und die Brisanz und Umstrittenheit des Holocaust in diesem Kontext (Steffen Hänschen) und schließlich Erinnerungskonflikte in der Ukraine nach den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts (Roman Dubasevych).

Der literaturwissenschaftliche Blick richtet sich auf das „Phänomen Stanislau“, eine Gruppe von Autoren und Malern in der Zeitspanne von 1989–1996 (Olena Dvoretska), auf Reiseliteratur am Beispiel der Autorin Anna Strońska (Magdalena Ba­ran), auf die literarischen und historischen Galizienerzählungen des markanten polnischen Prosaisten Andrzej Stasiuk (Christof Schimsheimer). Galizienbilder werden auch in Sabrina Janeschs Roman Katzenberge und in dem Roman Aller Tage Abend von Jenny Erpenbecks herausgearbeitet (Florian Rogge, Anastasia Telaak).

Im letzten Abschnitt, der den sprachwissenschaftlichen Aspekten gewidmet ist, lenken Ausführungen die Aufmerksamkeit auf die Situation der polnischen Sprache im österreichischen Teilungsgebiet zwischen 1772 und 1918 (Kazimierz Ożóg), auf das Vorkommen von Galizien in polnischen Geschichtsschulbüchern der letzten 30 Jahre unter Berücksichtigung des Denkstils (Waldemar Czachur), auf die sprachliche Gestaltung der Prosatexte des österreichischen Autors Martin Pollack (Anna Hanus), auf die Druckwidmungen in den Werken galizischer Schriftsteller (Maria Krauz), auf Kochrezepte (Anna Hanus, Iwona Szwed), auf die Funktion von in deutscher Sprache verfassten Texten in der polnischen Krakauer Presse am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert (Andrzej S. Feret). Der allgemeine theoretische Beitrag zu Relation von Diskurs, Stil, Gattung und Text (Maria Wojtak), der keinen konkreten Bezug zu Galizien aufweist, versteckt sich ohne Regieanweisung in diesem letzten Abschnitt, statt sinnvoller am Beginn des Bandes oder zumindest eines Abschnittes zu stehen. Den Abschluss bilden Darlegungen zu einem frühneuhochdeutschen Schriftdialekt im Schöffenbuch des 16. Jahrhunderts der Sprachinsel Markowa.

Die zahlreichen Analysen erweitern und bereichern das große Mosaik, zu dem das Forschungsgebiet „Galizien“ anwächst. Eine ganze Reihe von Überlegungen stammt aus Werkstätten junger Nachwuchswissenschaftler, die neue Fenster öffnen, zahlreiche Anregungen und viel Innovatives bieten. Die Verdienste und die Relevanz der einzelnen Beiträge wären allerdings noch deutlicher durch eine dezidiertere einleitende Einordnung in den Forschungskontext hervorgetreten.

Hans-Christian Maner, Mainz

Zitierweise: Hans-Christian Maner über: Galizien als Kultur- und Gedächtnislandschaft im kultur- und sprachwissenschaftlichen Diskurs. Hrsg. von Anna Hanus / Ruth Büttner. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2015. 458 S., 13 Abb. = Studien zur Text- und Diskursforschung, 10. ISBN: 978-3-631-65641-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maner_Hanus_Galizien_als_Kultur-und_Gedaechtnislandschaft.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2017 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Hans-Christian Maner. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.