Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  3 (2013), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Hans-Christian Maner

 

Maciej Górny: „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“. Nation, Marxismus und Geschichte im Ostblock. Aus dem Polnischen übersetzt von Peter Oliver Loew / Błażej Białkowski / Andreas Warnecke. Köln [etc.]: Böhlau, 2011. 440 S. = Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg, 16. ISBN: 978-3-412-20702-1.

In welcher Weise haben marxistische Historiker in Polen, der Tschechoslowakei und der DDR die nationalen historischen und historiographischen Traditionen genutzt? Dieses ist das zentrale Ziel und die Hauptfrage, die der junge polnische Historiker in seiner aus dem Polnischen übersetzten Dissertation verfolgt.

In der Untersuchung können zwei Arbeitsfelder ausgemacht werden: einmal die vergleichende Untersuchung der nationalen Historiographien nach dem Zeiten Weltkrieg in Polen, der Tschechoslowakei und der DDR in ihrer Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus sowjetischer Prägung. Zum zweiten interessiert den Autor, inwiefern der Marxismus-Leninismus als universale Methodologie der Geschichtswissenschaft taugt.

Die Arbeit ist in fünf Kapitel untergliedert. Nach einer konsistenten Einführung, in der die Relevanz des Themas, die zu untersuchenden Bereiche sowie die Forschungsmethode dargelegt werden, konzentriert sich Górny zeitlich auf die jeweilige Anfangsphase in den drei Staaten, wobei diese unterschiedlich lang ausfällt: Polen 1948/491956, Tschechoslowakei 19481963 und die DDR 1949 bis Ende der 1960er Jahre. In den folgenden etwa gleichlangen Kapiteln breitet Górny seinen Untersuchungsgegenstand aus. Zunächst beleuchtet er Entwicklungen, Institutionen und die Tätigkeit von Historikern unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Jahren 19451949. In Polen waren die wissenschaftlichen Einrichtungen zum großen Teil zerstört und ein großer Teil der Berufshistoriker war umgekommen. Ganz anders in Tschechien und der Slowakei, wo die Verluste bei Weitem nicht so hoch waren. Im Osten Deutschlands musste die institutionelle Infrastruktur zunächst aufgebaut werden. Personell war Ostdeutschland von Entnazifizierungsmaßnahmen sowie vom Wegzug der Wissenschaftler betroffen. Dennoch war es das Bestreben, in allen drei Ländern den wissenschaftlichen Betrieb so schnell wie möglich wieder aufzubauen.

In der polnischen wie tschechoslowakischen Geschichtswissenschaft machten sich recht früh nationale, antideutsche Töne breit. In Ostdeutschland hingegen suchte man nach positiven Bezugspunkten in der Geschichte Deutschlands. In allen drei Ländern kam es bereits früh zu einer Sowjetisierung der historischen Wissenschaften und zugleich ging es darum, eine neue marxistische Geschichtswissenschaft zu schaffen. Der Autor zeigt diese Entwicklung an zentralen historischen Zeitschriften, an der wissenschaftlichen Diskussionskultur, wie sie sich beispielsweise auf Konferenzen und Historikertagen manifestierte. Schließlich ging es auch darum, marxistische Synthesen der jeweiligen Nationalgeschichte und Lehrbücher zu verfassen.

Im nächsten Abschnitt blickt der Autor zurück und geht den historiographischen Traditionen in den drei Ländern vom 18.20. Jahrhundert nach, um damit darzulegen, von welchem Stand die marxistische Geschichtsschreibung ausging. Hier finden sich kompendienhaft die bekannten Namen der einzelnen Historiographien: Adam Naruszewicz, Joachim Lelewel, Michał Bobrzyński, František Palacký, Josef Pekař, Tomáš Garrigue Masaryk, Alois Jirásek, Zdenĕk Nejedlý, Leopold von Ranke oder die borussische Schule. Im nächsten Kapitel führt der Autor nun diese Traditionen der bürgerlichen Historiographien mit den marxistischen Positionen zusammen und geht der Frage nach, wie die jeweiligen Nationalgeschichten von den marxistischen Historiographien interpretiert bzw. uminterpretiert wurden.

Für die besonders erkenntnisreiche komparative Vorgehensweise zieht der Autor eine große Menge an Material heran: unveröffentlichte Archivdokumente, veröffentlichte Quellen und Erinnerungen, Zeitschriften. Alles fußt auf einer breiten multilingualen Literaturgrundlage.

Sieht man sich die Vergleichsfälle an, so greift Górny immer wieder gezieltüber die im Fokus stehenden Länder hinausauch auf zentrale Beispiele aus der rumänischen und bulgarischen Historiographie zu. Der polnische Historiker kommt zu dem Schluss, dass in der Historiographie, ganz unbeeindruckt von dermethodologischen Wende“, einevielstimmige Kontinuität von Inhalt und Formfestzustellen sei. Vormarxistische Konzeptionen wurden von der marxistischen Geschichtsschreibung aufgenommen und verarbeitet. Die Arbeit ist auf jeden Fall ein wichtiger Anstoß zur wissenschaftlichen Diskussion über die Frage nach Brüchen und Kontinuitäten beim Übergang von der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zum marxistischen System. Dass diese Untersuchung durch die Übersetzung nun auch in den deutschen wissenschaftlichen Diskurs einfließt und diesen befruchtet, kann nur sehr begrüßt werden.

Hans-Christian Maner, Mainz

Zitierweise: Hans-Christian Maner über: Maciej Górny: „Die Wahrheit ist auf unserer Seite“. Nation, Marxismus und Geschichte im Ostblock. Aus dem Polnischen übersetzt von Peter Oliver Loew / Błażej Białkowski / Andreas Warnecke. Köln [etc.]: Böhlau, 2011. 440 S. = Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg, 16. ISBN: 978-3-412-20702-1, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Maner_Gorny_Wahrheit.html (Datum des Seitenbesuchs)

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