Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Darina Majerníková

 

Doubravka Olšáková: Věda jde k lidu! Československá společnost pro šíření politických a vědeckých znalostí a popularizace věd v Československu ve 20. století. [Wissenschaft geht zum Volk! Tschechoslowakische Gesellschaft für die Verbreitung politischer und wissenschaftlicher Kenntnisse und die Popularisierung der Wissenschaften in der Tschechoslowakei im 20. Jahrhundert]. Praha: Academia, 2014. 678 S. = Šťastné zítřky, 10. ISBN: 978-80-200-2318-6.

Die Forschung zum Staatssozialismus in der Tschechoslowakei wurde noch lange nach der Wende stark von der Opposition ‚gute Gesellschaft‘ vs. ‚Unterdrückungsregime‛ geprägt. Dementsprechend widmeten sich viele Studien der physischen Gewalt, mit der die von offiziellen Deutungen abweichenden Positionen bekämpft wurden. Das Buch von Doubravka Olšáková „Věda jde k lidu“ lenkt den Blick auf andere Mittel, die dem Regime zur Verfügung standen, um die Vorstellungen und Überzeugungen der Bevölkerung in die gewünschte Richtung zu steuern. Dies waren neben der Medienkontrolle eigens gegründete Institutionen, die der „Volksaufklärung“ dienen sollten. Dazu gehörte auch die von Olšáková untersuchte „Tschechoslowakische Gesellschaft für die Verbreitung politischer und wissenschaftlicher Kenntnisse“ (im Weiteren: „Gesellschaft“), die mit der sowjetischen Allunions-Gesellschaft „Znanie“ („Wissen“) oder der Urania in der DDR vergleichbar war.

Olšáková, die an der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik tätig ist, legt ein faktenreiches Werk vor, das im Rahmen eines Projektes zur Sowjetisierung der mitteleuropäischen Wissenschaft entstanden ist. Das Ziel der Autorin, das ebenso wie der Entstehungskontext versteckt in einer der letzten Fußnoten beschrieben wird, ist es, die Rolle des Staates in der Volksbildung zu analysieren (S. 597). Sie gliedert das Buch in 21 nicht nummerierte Kapitel und mehrere Unterkapitel. Zwar erleichtert das detaillierte sechsseitige Inhaltsverzeichnis die Orientierung im Buch, dennoch wäre eine Einleitung mit der Erklärung der Vorgehensweise wünschenswert gewesen. So bleibt unklar, warum die Autorin die Entwicklungen vor 1965 sehr ausführlich beschreibt und mit zahlreichen Statistiken, Tabellen und Quellen, die in Wortlaut abgedruckt sind, belegt, während sie den Zeitraum nach 1965 sehr knapp auf vergleichsweise wenigen Seiten zusammenfasst.

Gleich zu Beginn skizziert die Autorin das Hauptproblem der „Gesellschaft“, das sich wie ein roter Faden durch ihre Entwicklung ziehe. Der Versuch, den wissenschaftlichen Anspruch mit dem politischen Auftrag in Einklang zu bringen, führte zu Kontroversen um ihre Rolle. Seit der Gründung 1952 war die „Gesellschaft“ finanziell vom Staat abhängig, und über die Besetzung der Führungsposten sowie ihre Tätigkeit entschied das ZK der KPČ. Dementsprechend widmete sich die Mehrheit der von der „Gesellschaft“ organisierten Vorträge Themen, denen die KPČ Priorität einräumte, wie zunächst der Einführung sowjetischer Methoden in der Landwirtschaft und später, ab Mitte der 1950er Jahre, der Verbreitung des atheistischen Weltbildes. Diese Politisierung und der Vorrang der Quantität der Vorträge vor der Qualität wurden 1956 zu den wichtigsten Bestandteilen der Selbstkritik, die im Zusammenhang mit den Entwicklungen nach der Kritik der KPdSU am Personenkult um Stalin stand. Die darauf folgenden Jahre wurden der Autorin zufolge stark von dem neuen Vorsitzenden, dem bekannten Historiker Josef Macek, geprägt, der die Stellung der „Gesellschaft“ gegenüber der Staatsmacht stabilisierte und den Austausch mit westlichen Ländern förderte. Diese  Lockerung war aber dem ZK der KPČ ein Dorn im Auge. 1965 demonstrierte die Partei ihre Macht, indem sie Macek ersetzte und die „Gesellschaft“ in „Sozialistische Akademie“ umbenannte.

Nach einer erneuten Phase der Liberalisierung in den Jahren 1968–1969, in denen sich die Sozialistische Akademie ein Aktionsprogramm mit der Forderung nach Forschungsfreiheit gab, folgten zu Beginn der „Normalisierung“ wieder Diskussionen um ihre Positionierung zwischen Wissenschaftsfreiheit und Parteidisziplin. Die darauf folgenden Säuberungen, der Abbruch mehrerer geplanter Publikationen und schließlich die Auflösung der Akademie und ihre Neugründung unter einem neuen Namen zeugen eindeutig von einem Ausschlag zugunsten der Parteikontrolle, die bis in die 1980er Jahre hinein eine Anpassung an neue gesellschaftliche Entwicklungen verhinderte.  

Olšáková kann am Beispiel der „Gesellschaft“ zeigen, dass das Verhältnis zwischen dem Machtzentrum und den von der Partei gegründeten Institutionen nicht allein von Unterdrückung bestimmt war, auch wenn das ZK der KPČ stets die Möglichkeit hatte, durch den Austausch des Führungspersonals unerwünschten Entwicklungen einen Riegel vorzuschieben. Die „Gesellschaft“ konnte sich in Phasen der Lockerung des Regimes Freiräume verschaffen. Angesichts dieser Perspektive überrascht es aber, dass sich die Autorin fast ausschließlich auf Quellen aus dem Fonds des ZK der KPČ stützt. Ein Blick in regionale Archive, wo sich jeweils Bestände der „Gesellschaft“ selbst befinden, hätte noch weitere wichtige Aspekte ihres Agierens ans Licht bringen können. Nichtsdestotrotz bietet Olšákovás Buch bemerkenswerte Einblicke in die Funktionsweise einer Institution, die zwischen akademischen Ansprüchen und politischen Aufträgen lavierte, und leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der bisher kaum untersuchten Wissenschafts- und Bildungsgeschichte der sozialistischen Tschechoslowakei.

Darina Majerníková, München

Zitierweise: Darina Majerníková über: Doubravka Olšáková: Věda jde k lidu!: Československá společnost pro šíření politických a vědeckých znalostí a popularizace věd v Československu ve 20. století. [Wissenschaft geht zum Volk! Die Tschechoslowakische Gesellschaft für die Verbreitung politischer und wissenschaftlicher Kenntnisse und die Popularisierung der Wissenschaften in der Tschechoslowakei im 20. Jahrhundert]. Praha: Academia, 2014. 678 S. = Šťastné zítřky, 10. ISBN: 978-80-200-2318-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Majernikova_Olsakova_Veda_jde.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Darina Majerníková. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.