Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Rober Maier

 

Istoriju – v školu. Sozdanie pervych sovetskich učebnikov. [Die Geschichte in die Schule bringen. Die ersten sowjetischen Lehrbücher]. Šef-redaktor Sergej Kudrjašov. Moskva: Archiv Presidenta Rossijskoj Federacii, 2008. 304 S., Tab., Abb. = Vestnik Archiva Presidenta Rossijskoj Federacii. ISBN: keine.

Der „Vestnik“ erscheint als Periodikum in der gegebenen Form seit 2006 jährlich und ist jeweils einem wichtigen Geschehen der Sowjetgeschichte gewidmet. Zuvor, seit 1993, war er eine Beilage der Zeitschrift „Istočnik“. Die vorliegende Ausgabe befasst sich mit dem Entstehen der ersten sowjetischen Lehrbücher in den 30er Jahren – primär solcher für Geschichte, aber auch für Geographie.

Bei dem Buch handelt es sich um eine wissenschaftliche Quellenedition mit Querverweisen und Register, eingeleitet von einem Vorwort des Redakteurs und einem archivwissenschaftlichen Vorwort. Die 59 abgedruckten Dokumente datieren aus der Zeit zwischen August 1932 und Dezember 1939; nachgestellt ist ein Dokument aus dem Jahr 1959. Es finden sich zahlreiche Illustrationen, sei es, dass einzelne Quellen durch Faksimile-Abdrucke ergänzt werden oder dass wichtige Persönlichkeiten durch Fotos (meist Porträts) vorgestellt werden. Für letzteres wünschte man sich einen Bildnachweis.

Die Entscheidung, eigene sowjetische Geschichtsbücher zu erstellen, fiel in die Zeit der Reorganisation des sowjetischen Bildungssystems nach der Ablösung A. B. Lunačarskijs als Volkskommissar für Aufklärung. Die evidenten Missstände im Bildungsbereich boten Stalin Anlass, auch dieses Ressort seinen Vorstellungen von der Transformation der sowjetischen Gesellschaft zu unterwerfen. Die mit dem Namen Pokrovskijs verbundene Ausrichtung der Geschichtswissenschaft, die sich in der historischen Bildung sehr widersprüchlich niedergeschlagen hatte, wurde verdammt. 1931 begannen die Kampagnen zur Säuberung der Geschichtswissenschaft von sog. feindlichen Elementen. Stalin beanspruchte das Monopol in der Geschichtsinterpretation und setzte es mit rigorosen Zensurmaßnahmen durch. Schulbücher erschienen dabei als ein optimales Vehikel zur Implementierung der offiziellen Ideologie. Das Politbüro der VKP(b) bildete eine Kommission, die unter Leitung von A. Ždanov in kürzester Zeit Geschichtslehrbücher für die Unter- und Mittelstufe herausbringen sollte. Es gelang dies nur teilweise. Den Anfang machte 1937 der Leitfaden zur Geschichte der UdSSR von A. B. Šestakov für die 4. Klasse. Bis 1938 waren zudem zwei Bände zur Geschichte des Bürgerkrieges in der UdSSR erschienen. Das Zentralwerk der Lehrbücher, das in kritischer Rückschau als „Enzyklopädie des Stalinismus“ (N. N. Maslov) tituliert wird, war jedoch der „Kurze Leitfaden zur Geschichte der VKP(b)“ aus dem Jahr 1938, an dem Stalin selbst redigierend mitwirkte. Wie Sergej Kudrjašov erwähnt, kam dieser bis zum Jahr 1953 auf 301 Ausgaben in 67 Sprachen mit einer Gesamtauslage von 42 Millionen (S. 13). In kanonisierter Form vermittelt er eine stalinistische Fiktion der Geschichte, die auf empirische Befunde gänzlich verzichtet und einen rein ideologisch-legitimatorischen Charakter aufweist.

Sergej Kudrjašov schildert in seinem etwas zu allgemein gehaltenen Vorwort diesen historischen Kontext. Erfreulich ist, dass er die internationale Stalinismusforschung wahrnimmt und etwa auf den „Stalinismus von unten“ verweist. Der schulische Kontext kommt jedoch deutlich zu kurz. Zumindest bibliographisch hätte an dem Standardwerk von E. M. Balašov über die Schule in der frühen Sowjetgesellschaft (Sankt-Peterburg 2003) angeknüpft werden können.

Etliche der Dokumente sind bereits publiziert worden – einige schon in den dreißiger Jahren. Von daher liegt der Wert der Edition darin, einen umfassenden Eindruck davon zu vermitteln, wie akribisch und intensiv die Einwirkung der bolschewistischen Führung auf Initiierung und Fortgang der Arbeiten an diesen Büchern war. Beleuchtet werden alle Phasen der Genese der Schulbücher, angefangen von der Ausgangssituation, der Zielbestimmung, der Zusammenstellung des Autorenkollektivs und bis hin zu Texterstellung, Wettbewerben, Rezensionswesen und Auswahlverfahren. Aus der Lektüre bleibt als treffliche Anekdote die Korrespondenz der Mächtigen des Landes über „seltsame Flecken“ auf einer Schulbuchillustration haften. Einer hatte geglaubt, in ihnen die Form eines Hakenkreuzes erkennen zu können (S. 11). Karl Radek, in regem Austausch mit Stalin stehend, bewertete ein Manuskript mit den Worten: „Das Buch ist nicht verbesserbar, man kann es nur in den Papierkorb werfen“, und bot sich selbst als besseren Autor an (S. 203). Vielsagend sind auch die zahlreichen handschriftlichen Vermerke Stalins. Ein vorgeschlagenes Schulbuchkapitel „Polnischer Aufstand im Jahr 1863“ kommentierte er z. B. despektierlich mit: „Was für ein Aufstand?“ (S. 78). Es wäre sicherlich eine kurzweilige und lehrreiche Seminarübung, zu erwägen, welche Intentionen hinter den jeweiligen „Korrekturen“ Stalins vermutet werden dürfen.

Die Entstehung der ersten Geschichtsschulbücher in der Sowjetunion ist sicherlich ein Lehrstück in Sachen Stalinismus, und sie wurde von Kudrjašov vorbildlich dokumentiert. Dem eingangs postulierten Gedanken, auch eine Perspektive ‚von unten‘ anzulegen und etwa die Rezeption der Bücher mit einzubeziehen, konnte Kudrjašov freilich mit den von ihm ausschließlich herangezogenen Quellen aus dem höchsten Führungskreis kaum nähertreten.

Robert Maier, Braunschweig

Zitierweise: Rober Maier über: Istoriju – v školu. Sozdanie pervych sovetskich učebnikov. [Die Geschichte in die Schule bringen. Die ersten sowjetischen Lehrbücher]. Šef-redaktor Sergej Kudrjašov. Moskva: Archiv Presidenta Rossijskoj Federacii, 2008. 304 S., Tab., Abb. = Vestnik Archiva Presidenta Rossijskoj Federacii. ISBN: keine, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maier_Istoriju_v_skolu.html (Datum des Seitenbesuchs)

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