Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Eva Mäder

 

Universitäten in Zeiten des Umbruchs. Fallstudien über das mittlere und östliche Europa im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Elmar Schübl / Harald Heppner. Berlin [usw.]: LIT, 2011. IX, 261 S., Abb. = Transkulturelle Forschungen an den Österreich-Bibliotheken im Ausland, 5. ISBN: 978-3-643-50352-7.

Inhaltsverzeichnis:

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Die Steiermark wurde wiederholt als Bollwerk und Brücke nach Südosteuropa bezeichnet. Diese doppelte Funktion lässt sich auch an einem der intellektuellen Zentren der Steiermark, der Universität Graz, erkennen. 1585 gegründet und von Jesuiten geleitet, bildete sie einen Teil der religiösen Grenzsicherung. Gleichzeitig fand hier der intellektuelle Brückenschlag in die benachbarten südosteuropäischen Gebiete statt. 1970 schlug sich dies in der Einrichtung einer eigenen Lehrkanzel für die Geschichte Südosteuropas nieder. Im Wissen darum, wie stark die Geschichte der eigenen Universität geprägt ist von politischen Umbrüchen, hat Harald Heppner, außerordentlicher Professor für Südosteuropäische Geschichte zusammen mit dem Wissenschaftshistoriker Elmar Schübl nun einen Sammelband über die Universitäten während Zeiten politischer und gesellschaftlicher Veränderungen (19. bis 21. Jahrhundert) im mittleren und östlichen Europa veröffentlicht. Beteiligt sind daran 22 Autorinnen und Autoren aus acht verschiedenen Staaten zwischen Lettland und Rumänien.

Um die Vielzahl der mit diesem Thema verbundenen Phänomene zu ordnen, stellt E. Schübl in seiner Einleitung ein strukturanalytisches Modell zur Klassifikation von Universitäten vor. Dieses enthält sieben Faktoren (personelle, materielle, ideelle, organisatorische, funktionale, temporale und räumliche), welche die Situation von Universitäten beeinflussen. Davon ausgehend weist er den Begriff Umbruch drei verschiedenen Problemfeldern zu: dem Stellenwert von Universitäten innerhalb von Modernisierungsprozessen, der Frage, inwieweit die Nationen auf ihre Universitäten rekurrieren, und schließlich, inwieweit Universitäten sich von Systemwechseln freihalten können. Leider nehmen nur wenige Aufsätze explizit auf diese Problemfelder Bezug. Die Einteilung der Aufsätze in drei Hauptkapitel: Universität und Politik; Universität und Organisation; Universität, Wissenschaft und Gesellschaft mag sich darauf beziehen, doch bleibt es dem Leser überlassen, Verbindungen herzustellen.

E. Schübl eröffnet den ersten Block zu Universität und Politik mit einem Überblick über die Entwicklung der Universitäten im 19. Jahrhundert in Österreich. Er unterscheidet dabei eine erste Phase der Reform nach 1848 von der Phase eines raschen Wachstums nach 1880, bei der durch ein beachtliches Bauprogramm die Infrastruktur für den universitären Großbetrieb geschaffen wurde. Im Vergleich dazu könne die Entwicklung zwischen 1918 und den sechziger Jahren nur als Verfall und Stagnation beschrieben werden. Die drei folgenden Aufsätze handeln von Universitäten im heutigen Tschechien. Ota Konrád untersucht, warum es an der Deutschen Universität Prag nach der Zerschlagung der Ersten Republik 1938 trotz eines umfassenden Minderheitenschutzes zu einer so raschen und tiefgreifenden Selbst-Gleichschaltung mit den Zielen des Nationalsozialismus kam. Die Gründung der Universität Brno (Brünn)so der Aufsatz von Lukáš Fasorawar eine Folge der nationalen Revolution von 1918. Im Vergleich zu Prag blieb die mährische Alma Mater jedoch zweitrangig. Mit der Sowjetisierung nach 1948 wurde die Provinzialität nicht aufgehoben, sondern vielmehr fixiert. Opava (Troppau) schließlich schien als Landeshauptstadt von Österreichisch-Schlesien sowie als Sitz des Jesuitenkollegs prädestiniert für eine Universität (Dan Gawrecki). Dennoch hatten die lokalen Initianten mit ihren Bemühungen erst nach der Wende von 1991 Erfolg. Der letzte Aufsatz dieses Kapitels von Johannes Uray zeigt, wie die Universität Tscherniwzi (Czernowitz) den Nicht-Deutschsprachigen vor 1918 als Bastion des Kul­tur­imperialismus erschien. Nach der rumänischen Staatsgründung 1918 erfolgte der vollständige Wechsel zum Rumänischen als Unterrichtssprache. Die Universitätsangestellten verstanden sich als Deutsch-Österreicher und verließen die Universität. Sie wurden im österreichischen Staatsverband aufgenommen und hier auch mehrheitlich an anderen Hochschulen beschäftigt.

Die fünf Aufsätze des zweiten Teils Universität und Organisation behandeln wohl Beispiele aus fünf verschiedenen Ländern, zeigen aber alle, wie die vorgestellten Universitäten von den Zäsuren 1918, 1947/48 und 1989 beeinflusst wurden. Allerdings decken die Fallstudien unterschiedliche Zeiträume ab (1918 bis 2. Weltkrieg; ganzes 20. Jahrhundert; Zeit seit 1989), wodurch ein übergreifender Vergleich nur ansatzweise möglich ist. Die Staatsgründungen bzw. die staatliche Neuordnung von 1918 führten zur Ausrichtung auf die neuen nationalen Bedürfnisse. In Rumänien wurde unter anderem die bisher nach ungarischem Modell operierende Universität Cluj (Klausenburg) rumänisiert, so Ana-Maria Stan. In der tschechoslowakischen Republik, auf deren Gebiet es bis 1918 vergleichsweise wenige tschechische Hochschulen gab, wurden diese nun neu geschaffen (Marie Gawrecká). Die 1946 gebildete kommunistische Regierung erlaubte den Absolventen von Arbeiterkursen aus ideologischen Gründen das Studium an den Universitäten, wodurch deren Niveau sank. 1953 wurde allerdings auch das Schulsystem reformiert, die Schulzeit verlängert und damit diese Entwicklung teilweise wieder korrigiert. Auch in Timişoara (Temeswar) folgte die Umstrukturierung dem sowjetischen Vorbild (Karla Lupşan). Nach der Wende von 1989/90 wurde dann vieles davon rückgängig gemacht. Aufgelöste Fakultäten wurden neu gegründet, solche, die vorher nicht möglich gewesen waren, neu geschaffen. Der Aufsatz zu Ungarn von Zsuzsanna Kiss beschreibt die negativen Auswirkungen dieses Umbruchs: Der Bedarf an Russischlehrern verschwand schlagartig, umgekehrt waren nun die westlichen Fremdsprachen gefragt. Hastige Umschulungen, schlechte Lehrqualität und teilweise chaotische Verhältnisse an den Schulen trugen dazu bei, dass 2002 nur jeder vierte Ungar zwischen 25 und 60 Jahren sich in einer Fremdsprache verständigen konnte.

Jürgen Pirker zeigt am Beispiel der Universität Graz schließlich, dass die im Vergleich zu Osteuropa kleineren politischen Veränderungen in Österreich ebenfalls zu grundlegend neuen Universitätsgesetzen führen konnten. Auf die Demokratisierung, d.h. die Ausweitung der Mitsprache von 1975 folgte 1993 und 2002 eine Ökonomisierung, das heißt die Einführung moderner Managementstrukturen. Auch wenn die Reform längst nicht alle Erwartungen erfüllte, so könnte das Gesetz von 1993 dennoch Vorbildcharakter für die südosteuropäischen Universitäten haben, die ebenfalls einem starken Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind.

Der letzte Teil Universität, Wissenschaft und Gesellschaft ist mit zehn Aufsätzen der längste und inhaltlich auch am heterogensten. Der erste Text von Kaspars Kļaviņš zu Tartu (Dorpat) behandelt die Rolle der Universität bei der intellektuellen Transformation von der Nationalromantik zum sozialen Radikalismus um 1900. Die Alma Mater bildete dabei eine Art Fenster, durch das marxistische Ideen aus Deutschland auch nach Lettland gelangten. Allerdings führte gerade die Rezeption dieser Ideen zu einem neuen Bild der Deutschen und ließ diese nun als Ausbeutererscheinen. László Balogh und Harald D. Gröller zeigen am Beispiel Debrecen, dass die Universität auch als Gedächtnisspeicher bzw. gemäß dem Begriff von Pierre Nora als lieu de memoire wirkt. Die dortige Universität entstand aus dem 1538 gegründeten Reformierten Kollegium. Erst seit 1989 wird allerdings wieder an diese Tradition erinnert. Bei den Diplomfeiern tragen die akademischen Würdenträger wie die Diplomanden einen Talar, der den historischen Gewändern des Kollegiums nachempfunden ist. Zum Zeremoniell gehört dabei auch das Gerundium, ein Holzstab, der so schwer ist wie die Bildung der lateinischen Form. Dieser soll einen Bibliotheksbrand verhindert haben, verkörpert die Verbundenheit mit der Vergangenheit und fand daher auch Eingang in das Universitätslogo.

Ein geschlossener Block innerhalb dieses Kapitels behandelt die Geschichte der Universität Graz, an welcher der Sammelband entstanden ist. Ein erster Text von Andreas Golob untersucht, ob der Satz Inter arma silent musae auf das 19. Jahrhundert zutrifft. Die Armee erhob immer wieder Anspruch auf die räumlichen und vor allem menschlichen Ressourcen der Universität. Die Universität ließ aber in Friedenszeiten nicht einfach zu, dass Universitätsangehörige in den Armeedienst einberufen wurden, und versuchte zumindest zu erreichen, dass die Armee ihre Ausbildungspläne auf die Semester- bzw. Unterrichtszeiten abstimmte. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg aber wurden die Universität wie auch das Ministerium für Cultus und Unterricht zunehmend zu Vollstreckern außeruniversitärer Ziele. Daran anschließend beschreiben zwei weitere Aufsätzeüber die Universität allgemein (Manfred Bauer) und über das Institut für Hygiene (Bernhard Thonhofer) –, wie sich der Erste Weltkrieg auf den Universitätsbetrieb auswirkte. Besonders an der medizinischen, aber auch an der juristischen und theologischen Fakultät wurden Themen gelehrt, die in direktem Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen standen. Doch als die Armee versuchte, auf die Besetzung von Lehrstellen einzuwirken, antwortete die Universität mit dezidiertem Protest. Die Freiheit von Forschung und Lehre galt als hohes Gut, an dem man auch in Krisenzeiten festhielt. Am Rande geht es auch im Aufsatz von Ursula Mindler über den Archäologen Arnold Schober (1886–1959) um die politische Bedingtheit von Forschungsmöglichkeiten. Schobers Karriere setzte sich laut der Autorin vom autoritären Ständestaat bis in die NS-Zeit kontinuierlich fort. Der überzeugte Nationalsozialist leitete unter anderem ein Grabungsprojekt in Kreta und gelangte dank der Besetzung durch die Wehrmacht ab 1941 leichter zu Grabungsgenehmigungen. Im Oktober 1945 bezweifelte eine Entnazifizierungskommission seine Loyalität zur neu gegründeten Republik und versetzte ihn in den Ruhestand.

Vier Aufsätze behandeln die Universitäten Tscherniwzi (Czernowitz), Chišinău (Kischinau) und Opole (Oppeln). Die Bukowina wurde im Sommer 1940 von der sowjetischen Armee besetzt. Tamara Marusyk schildert die sowohl positiven wie negativen Auswirkungen auf die Universität. Einerseits wurde diese nun im Rahmen der Sowjetisierung gezielt gefördert. Institute wurden geschaffen, namhafte sowjetische Wissenschaftler nach Tscherniwzi berufen und das sowjetische System des interbibliothekaren Bücheraustauschs eingeführt. Andererseits kam es nun auch hier zu Säuberungen. Wer als unzuverlässig galt, wurde entlassen und vielfach auch verhaftet. Während der Entstalinisierung nach 1954 erwirkten lokale und nationale Kommissionen die Aufhebung zahlreicher Urteile. Halt machten sie jedoch vor allen mutmaßlichen Mitgliedern der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA).

Die Verhältnisse in Chišinău (Kischinau) nach 1945 lassen sich durchaus mit denen von Czernowitz vergleichen. Der Aufsatz von Aurelia Felea über das studentische Dasein fokussiert die schwierigen Lebens- und Lernbedingungen während der Nahrungsmittelkrise von 1946/47, bei der gemäß ungenauen Statistiken rund zehn Prozent der moldauischen Bevölkerung (rund 200.000 Personen) verhungerten.

Die letzten zwei Texte richten den Blick auf Polen. Mariusz Patelski schildert, wie im März 1968 an der Universität Opole (Oppeln), ebenso wie an vielen weiteren Hochschulen des Landes, Streiks und Demonstrationen ausbrachen. Nach vier Tagen beendeten die Studenten den Streik auf ein Versprechen hin. Es folgten jedoch Sanktionen und eine Erhöhung der Pflichtstunden bei den ideologischen Fächern. Auf diese Weise ruhig gestellt, wurden erst 1980 erneut Forderungen nach Demokratisierung laut. Dabei bildete sich ein unabhängiger Studentenverband, der bei der Wende von 1989 eine wichtige Rolle spielte. Die fehlende politische Freiheit und wirtschaftlich prekäre Verhältnisse führten nicht nur zu Protesten, sondern auch zur Emigration zahlreicher Wissenschaftler in den Westen. Der letzte Aufsatz zählt auf, wie stark die verschiedenen Institute des Landes vom dadurch entstandenen Brain Drain betroffen waren.

Insgesamt zeigt der Sammelband, wie stark politische Umbrüche die Existenz von Universitäten beeinflussten. Umgekehrt wird aber auch sichtbar, wie es den Universitäten gelang, allen Stürmen der Zeit zum Trotz Stätten der Forschung und Lehre zu bleiben.

Eva Mäder, Winterthur

Zitierweise: Eva Mäder über: Universitäten in Zeiten des Umbruchs. Fallstudien über das mittlere und östliche Europa im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Elmar Schübl / Harald Heppner. Berlin [usw.]: LIT, 2011. IX, 261 S., Abb. = Transkulturelle Forschungen an den Österreich-Bibliotheken im Ausland, 5. ISBN: 978-3-643-50352-7, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Maeder_Schuebl_Universitaeten_in_Zeiten_des_Umbruchs.html (Datum des Seitenbesuchs)

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