Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Eva Maeder

 

Aleksandr V. Pyžikov: Grani russkogo raskola. Zametki o našej istorii ot XVII veka do 1917 goda [Die Grenzlinien der russischen Kirchenspaltung. Bemerkungen zu unserer Geschichte vom 18. Jh. bis 1917]. Moskva: Drevlechranilišče, 2013. 647 S. ISBN: 978-5-93646-204-7.

„Ohne Spaltung der russischen Kirche im 17. Jahrhundert hätte es die Revolution von (19)17 nicht gegeben.“ Dieser These Alexander Solschenizyns zur russischen Geschichte geht Alexander Pyžikov, Professor an der Moskauer RGGU, in seinem Buch „Die Grenzlinien der russischen Glaubensspaltung“ nach. Auf über 600 Seiten und dokumentiert mit rund 10.000 Quellen- und Literaturangaben zeigt er, warum und wie Altgläubige zum Sturz des Zaren und zur Etablierung der bolschewistischen Herrschaft beigetragen haben. Seine Monografie gliedert sich in fünf thematische Teile.

Das erste Kapitel handelt davon, wie Zaren und russische Elite die Altgläubigen wahrnahmen bzw. lange Zeit auch einfach ignorierten. Katharina die Große betrachtete die Raskolniki wohl als Fremde, aber nicht länger als Gefahr, und beendete daher die staatliche Unterdrückung. Während sich bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts weder die Regierung noch die Gebildeten für die Altgläubigen interessierten, schrieb der aus Paderborn stammende August Franz von Haxthausen in seinem Reisebericht 1843: „Wer die typischen Charakterzüge der Großrussen kennenlernen will, der soll sie bei den Altgläubigen studieren.“ In derselben Zeit beauftragte Nikolaj I., misstrauischer als seine Vorgänger, einen Ethnografen im Innenministerium mit dem Studium der als schädlich eingestuften Glaubensgemeinschaften. Gemeinsam mit fünf weiteren Beamten sammelte er rund 10.000 Dokumente, aus denen der Metropolit Makarij 1855 eine erste umfassende Darstellung des Altgläubigentums verfasste. Bei einer Reise ins Gouvernement Vladimir meinte der Kommissionsleiter erstaunt, dass „hier ja alle altgläubig“ sind, und für eine kurze Zeit bezweifelte man die Richtigkeit der statistischen Angaben. Diese gingen von rund zwei Prozent Altgläubigen aus, Hochrechnungen der detaillierten Berichte ergaben aber eine mindestens zehn Mal so hohe Gesamtzahl. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl der Altgläubigen kaum ab, sondern eher noch zu.

Das neue Bewusstsein für die Bedeutung der Altgläubigen fand ab den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts auch seinen Niederschlag in der russischen Literatur. Diese ist reich an Figuren, die explizit oder durch Hinweise wie das Bekreuzigen mit zwei Fingern als Altgläubige gekennzeichnet wurden. Weil Zar Nikolaj I. in den Augen der Altgläubigen den Antichristen verkörperte, sahen Alexander Herzen und die anderen Revolutionäre jener Zeit in ihnen Verbündete im Kampf gegen die Autokratie und nahmen persönlichen Kontakt mit altgläubigen Kaufleuten in Moskau auf. Diese verwiesen auf die Heiligenviten und meinten, dass sie zum Aufstand nicht berechtigt seien, worauf Herzen die Händler als „noch verfaulter als die Adligen“ verfluchte und sich nun den armen Altgläubigen zuwandte. Der Gang ins Volk scheiterte allerdings an der ungenügenden Differenzierung. Von den zahlreichen altgläubigen Gruppierungen unterstützten in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die meisten noch die Herrschaft des Zaren.

Im zweiten Kapitel untersucht Pyžikov die Bedeutung der Altgläubigen bei der wirtschaftlichen Entwicklung des russischen Reichs bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft 1861. Die Bevölkerungszählung von 1737 machte den Bevölkerungsrückgang aufgrund der Kriege, Seuchen und des Baus von St. Petersburg bewusst. Als Maßnahme dagegen wurden die rund 1,5 Millionen Altgläubigen, die vor Verfolgungen nach Polen-Litauen und ins Osmanische Reich geflüchtet waren, zurückgerufen. Zar Petr III. gestattete ihnen, den Gottesdienst nach altem Ritus durchzuführen; dazu erhielten altgläubige Bauern das Recht, Fabriken zu gründen und sich im Stand der Kaufleute einzuschreiben. Überaus erfolgreich, verdrängten die Altgläubigen bald die angestammten Familien aus diesen Bereichen. Der Grund für den Erfolg der Altgläubigen lag in ihrer Möglichkeit, zinsfrei Kredite von der Gemeinde zu erhalten. Besonders genau lässt sich dieser Vorgang bei den priesterlosen Fedoseevcy nachvollziehen, deren Ehen – da nicht durch orthodoxe Priester geschlossen – staatlich nicht anerkannt waren und deren Kinder als illegitim galten. Damit fehlte den Eltern die Möglichkeit, den Besitz innerhalb der Familie zu vererben, weshalb sie ihn der Friedhofskasse überließen, aus der Mitglieder der Gemeinde Kredite erhielten.

Der dritte Teil schildert die Entwicklungsrichtungen der altgläubigen Unternehmer nach 1861. Max Weber verglich deren Fleiß und Geschäftssinn mit dem der Calvinisten Nordamerikas. Pyžikov hält am ersten Teil der These fest, meint aber, dass die Altgläubigen mit dem gemeinschaftlichen Besitz von Unternehmen und der Solidarität nicht Kapitalismus, sondern vielmehr eine Form von Sozialismus geschaffen hätten. In den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts baten sie den Zaren um die Einführung von Schutzzöllen mit der Begründung, dass sie mehr für Rohstoffe und Transport bezahlen müssten als die Konkurrenz im Ausland. Lange fand dieses Anliegen allerdings kein Gehör, weil die Adligen an Freihandel interessiert waren, um ihr Getreide zollfrei exportieren zu können. Erst Aleksandr III., der sich von allen Zaren am offen­sten gegenüber den Altgläubigen zeigte, gewährte den Unternehmern aus Moskau beim Wettbewerb um die Konzessionen für den Eisenbahnbau die gleichen Bedingungen wie den Adligen aus St. Petersburg.

Mit dem Amtsantritt von Zar Nikolaj II. fand dieses Entgegenkommen ein Ende und 1903 wurden die Schutzzölle für Industrieprodukte aufgehoben. Die altgläubigen Unternehmer beendeten darauf ihre bisher untertänige Haltung und begannen sich für eine Verfassung und das Gesetzgebungsrecht der Duma einzusetzen, um stabile Verhältnisse für ihre Unternehmen zu erhalten. Während der Zar Reformen nur zulassen wollte, wenn sie von ihm ausgingen, war um 1900 in den russischen Städten eine Öffentlichkeit entstanden, die Recht auf politische Beteiligung forderte. Unter dem Titel Paradoxien der russischen Öffentlichkeit schildert der Autor im vierten Teil, wie diese Dynamik sich schließlich in der Revolution von 1905 entlud.

Ein Graben – darauf spielt der Buchtitel an – trennte aber nicht nur die Regierung und die Gesellschaft, sondern auch die Altgläubigen. Die Mehrheit lebte als Bauern auf dem Land und blieb hier dem Konzept der Dorfgemeinde (obščina) treu, das privaten Besitz von Gemeindeland für ungerecht hielt und mit der Zuteilung je nach Familiengröße die Armut bekämpfen wollte. Die Unternehmer und Kaufleute in Moskau konnten dank dem Gemeinschaftsbesitz bedeutende Betriebe aufbauen. Zar NikolaI. entzog allen, die nicht zur Staatskirche gehörten, in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts das Recht auf ständige Mitgliedschaft in den Kaufmannsgilden. Um die Geschäfte weiterführen zu können, ließen sich daher viele als Orthodoxe registrieren. Dadurch wurden sie ihren Gemeinden entfremdet, erhielten umgekehrt aber auch die Möglichkeit, den ehemaligen Gemeinschaftsbesitz ausschließlich ihrer Familie zu übertragen. Innerlich blieben wohl manche dem alten Glauben treu – was es so schwer macht, die Altgläubigen statistisch zu erfassen –, dennoch galten sie nun bei ihren ehemaligen Gemeindemitgliedern als Verräter. Diese Vorgeschichte hilft erklären, warum die Bemühungen der Liberalen um 1900, den Austritt aus der obščina und die Privatisierung des Gemeindelandes zu erleichtern, wenig fruchteten.

Im fünften Kapitel über Die Auflösungen des letzten Jahrzehnts zeigt Pyžikov, wie sich die Wege der (ehemals) altgläubigen Unter- und Oberschicht endgültig trennten. Die Moskauer Unternehmer besaßen in Alexander Krivošein, der 1914 und 1915 in der russischen Regierung die Wirtschaftspolitik leitete, erstmals auf so hoher Ebene einen Ansprechpartner mit direktem Zugang zum Zaren. Dazu wurden nach Kriegsbeginn mehrere Duma-Mitglieder Minister, die sich offen für Demokratisierung einsetzten. Der Zar jedoch lehnte eine Veränderung des Systems während dem Krieg ab, worauf Krivošein und die ihm gleichgesinnten Minister zurücktraten. Die Moskauer Unternehmer engagierten sich nun in den kriegsindustriellen Komitees, dachten dabei aber mindestens so sehr an den eigenen Profit wie das Vaterland und verrechneten überteuerte Preise, wie die Untersuchung eines Beamten aufdeckte.

Bereits seit dem Toleranzedikt von 1905 bauten die priesterlichen Altgläubigen eine eigene Infrastruktur auf, zu der neben Kirchen auch wohltätige Einrichtungen gehörten. Pyžikov sieht darin jedoch nur die sichtbare Spitze des Eisbergs, während die russische Elite weiterhin nichts von der großen Masse Priesterloser geahnt habe, der das Konzept des Privateigentums fremd geblieben sei. In diesen Gemeinden nannte man die Autoritätsfigur, welche die gemeinsame Kasse führte, bolšak. Das klingt ähnlich wie bolševik und erklärt gemäß Pyžikov, warum altgläubige Bauern dem Versprechen der Bolševiki vertrauten, das Gutsland zu verteilen, und diese im Bürgerkrieg unterstützten. Als Beleg zitiert er aus den Werken der frühen sowjetischen Literatur, in denen zahlreiche Helden dem Altgläubigentum entstammten und nun als Revolutionäre das Paradies auf Erden zu verwirklichen suchten. Mit der Oktoberrevolution und dem anschließenden Kampf gegen die orthodoxe Kirche hätten die Bolševiki das altgläubige Projekt vollendet.

Pyžikovs Darstellung endet mit dem Ausblick auf den Bürgerkrieg und lässt daher die weiteren Ereignisse wie die Auflösung der altgläubigen Gemeinden nach 1929, die nicht mehr zu seiner These passen, außer Acht. Auch reicht bisher das Quellenmaterial nicht, um eine Zusammenarbeit zwischen den Priesterlosen und den Bolševiki nach 1917 überzeugend zu beweisen. Abgesehen von den angreifbaren Thesen im letzten Teil enthält Pyžikovs Buch viele bisher wenig beachtete Informationen zur wirtschaftlichen und politischen Geschichte der Altgläubigen und zeigt auf nachdrückliche Weise, wie die Glaubensspaltung von 1666 die folgenden Jahrhunderte prägte.

Eva Maeder, Winterthur

Zitierweise: Eva Maeder über: Aleksandr V. Pyžikov: Grani russkogo raskola. Zametki o našej istorii ot XVII veka do 1917 goda [Die Grenzen der russischen Kirchenspaltung. Bemerkungen zu unserer Geschichte vom 18. Jh. bis 1917]. Moskva: Drevlechranilišče, 2013. 647 S. ISBN: 978-5-93646-204-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maeder_Pyzikov_Grani_russkogo_raskola.html (Datum des Seitenbesuchs)

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