Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Eva Mäder

 

Entangled Protest. Transnational Approaches to the History of Dissent in Eastern Europe and the Soviet Union. Ed. by Robert Brier. Osnabrück: fibre, 2013. 262 S. = Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 31. ISBN: 978-3-938400-96-8.

Inhaltsverzeichnis:

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Wenn ein Gemüsehändler in einem sozialistischen Staat mitten zwischen Karotten und Zwiebeln eine Tafel mit dem Marx-Zitat: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ aufstellt, erfüllt er dann den Auftrag der Staatspartei oder unterläuft er ihn nicht vielmehr ironisch? Wenn er sich aber weigert, das Plakat aufzuhängen oder gar eine Untergrundorganisation gründet, dann verlässt er das System der Lügen definitiv und tritt ein für ein „Leben in Wahrheit“.

So zumindest beschreibt Vaclav Havel die Macht der Ohnmächtigen“ in seinem gleichnamigen Aufsatz. Westliche Beobachter, die über solch abweichendes Verhalten berichteten, prägten dafür den Begriff der Dissidenz. Diese, verstanden als „geteilte Praktiken der Opposition“, war also von Anfang an länderübergreifend, und so lag es nahe, die Fragestellungen der transnationalen Geschichte für die Erforschung der spätsozialistischen Staaten Osteuropas fruchtbar zu machen. 2011 führte das Deutsche Historische Institut in Warschau eine Tagung über die gegenseitige Wahrnehmung und den Ideenaustausch zwischen Dissidenten und westlichen Sympathisanten durch, deren Resultate Robert Brier als Herausgeber nun veröffentlicht hat. Sein Sammelband vereinigt in vier Abteilungen zehn Aufsätze.

Im ersten Teil geht es um theoretische und methodische Fragen. Robert Brier verknüpft in seiner Einleitung die einzelnen Beiträge und rekonstruiert damit eine thematisch gegliederte Geschichte der Dissidenz. Padraic Kenney umreißt die Leitgedanken der transnationalen Geschichte und betont, dass man nur von einer solchen sprechen könne, wenn namentlich bekannte Akteure miteinander in Kontakt träten. Weil ein solcher Austausch nur selten schriftliche Spuren hinterlässt, bleibt er für Historiker schwer fassbar. Als Beispiel beschreibt er, wie er mehr durch Zufall herausfand, dass ungarische Politikwissenschaftler die Oppositionsbewegung Fidesz als Resultat von Studienreisen über die polnische Organsation WiP (Freiheit und Friede) gegründet haben. Die Wirkung transnationaler Faktoren versinnbildlicht Kenney mit zwei Metaphern aus der Physik. Einerseits gibt es elektromagnetische Kräfte“, die Akteure über Landesgrenzen hinweg verbinden, sich in starkem und persönlichem Kontakt äußern und Verhalten verändern. Andererseits vermitteln „Radiowellen“ Botschaften ohne direkten Draht. Weil sie niederschwellig wirken, erzeugen sie nur in Kombination mit anderen Faktoren Wandel. Bei der Beschränkung auf die nationale Geschichte sind diese „Radiowellen“ kaum wahrnehmbar. Kenney hingegen vergleicht mit globaler Perspektive die Revolutionen zwischen 1986 (Philippinen) und 1994 (Südafrika) und zeigt, wie alle durch einen Generationenwechsel innerhalb der Oppositionsbewegung, neue Kommunikationstechnologien, den internationalen Menschenrechtsdiskurs sowie die Abschwächung des Kalten Krieges mitverursacht wurden.

Im zweiten Teil über den Austausch von Ideen zwischen Ost und West untersucht Tomáš Vilímek am Beispiel der Rezeption des Prager Frühlings und der Charta 77 die Möglichkeiten und Grenzen des Ideentransfers zwischen der DDR und der ČSSR. Interviews mit Zeitzeugen aus beiden Ländern machten deutlich, dass wegen der Existenz der BRD für den Widerstand in der DDR andere Voraussetzungen galten. Die Behörden der DDR wiesen Oppositionelle regelmäßig dorthin aus und zerstörten damit deren Organisationsnetz. Die Bürgerrechtler in der Tschechoslowakei und Polen hingegen konnten radikalere Forderungen aufstellen.

In den 1950er und 1960er Jahren beachteten die Tschechoslowaken das Geschehen in der DDR kaum. Umgekehrt war man in der DDR über die Verhältnisse in der ČSSR besser informiert, neigte aber dazu, die Bedeutung der Opposition zu überschätzen. Mit der Veröffentlichung der Charta 77 begannen sich die Regimekritiker beider Länder gegenseitig verbal zu unterstützen. 1985 veröffentlichten Mitglieder der Charta einen Appell, in der die Teilung Deutschlands als Hindernis für die Verbesserung des politischen Klimas in Europa bezeichnet wurde. Solche Solidaritätsbekundungen verstärkten den Druck auf die Regierungen und leisteten damit einen gewissen Beitrag zu deren Sturz im Jahre 1989. Schade, dass Vilímek nicht auf die Grenzen der Oral History hinweist. So stellt sich die Frage, inwiefern sich durch den Systemwechsel die Erinnerung an die Zeit davor verändert hat.

Julia Metger zeichnet in ihrem Aufsatz über den Prozess gegen Andrej Sinjaskij und Julij Daniėl 1966 die Evolution vom eher trockenen, auf offiziellen Verlautbarungen beruhenden Journalismus zu Hintergrundrecherchen, bei denen die Korrespondenten erstmals in Kontakt zu den Angehörigen und Sympathisanten der Angeklagten traten. Im Westen habe man die Prozesse in Moskau mit viel Anteilnahme verfolgt, während man wesentlich brutalere staatliche Gewalt wie beispielsweise den Terror der Roten Khmer weniger beachtete. Offen bleibt, ob die einen persönlichen Bezug ermöglichenden Korrespondentenberichte das Interesse an der Sowjetunion vergrößerten.

Nenad Stefanov untersuchte die Beiträge der Zeitschrift Praxis, die 1966 bis 1974 in Jugoslawien erschien. Die Autoren stellten dort aktuelle philosophische Ideen und Texte aus dem Westen vor – die kritische Theorie der Frankfurter Schule, Marx Frühschriften, den amerikanischen Pragmatismus – und integrierten diese in die marxistische Kritik des jugoslawischen Systems. Zu persönlichen Begegnungen, darunter mit renommierten Philosophen wie Herbert Markuse und Jürgen Habermas, kam es während der Sommerschule auf der Adriainsel Korčula. Nach 1974 duldete die Parteiführung den offenen Dialog nicht mehr. Sie ließ die Zeitschrift schließen und zahlreiche Mitarbeiter verhaften. Anders als in Polen weckte die Repression keine Zweifel an der theoretischen Möglichkeit des Reformsozialismus. Trotz dem Festhalten an (scheinbar) überholten Erkenntnissen bleibt die Bedeutung der Praxis unbestritten: In ihrem Umfeld wurden Jugendliche sozialisiert, die in den achtziger und neunziger Jahren versuchten, die jugoslawischen Krisen friedlich zu lösen.

Der dritte Teil thematisiert die Verbindung von Dissens, Détente und Menschenrechten. Den Höhepunkt der Entspannungspolitik bildete die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975. Wanda Jarząbek untersucht deren Auswirkungen auf die polnische Politik. Trotz Streiks und der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage duldete die Regierung oppositionelle Gruppen, solange weder die eigene Herrschaft noch die Hegemonie der Sowjetunion in Frage gestellt wurden. Diese vergleichsweise liberale Haltung erklärt sich mit der Abhängigkeit von westlichen Krediten. Wohl endete sie 1981 mit der Einführung des Kriegsrechts. Doch die KSZE-Akte hatte die Opposition in Polen dauerhaft gestärkt und ihr (ideelle) Instrumente im Kampf gegen die Politik der Partei geliefert.

Bernd Bohl analysiert das Dilemma der westlichen Sozialdemokraten bzw. Sozialisten. Diese sympathisierten einerseits mit der Opposition im Ostblock, wollten andererseits aber auch die Entspannungspolitik aufrechterhalten und stärken. Aufgrund von Einzelstudien über die Unterstützung für Dissidenten in der Tschechoslowakei, Polen und der DDR arbeitet er drei Paradoxien heraus: Obwohl die Geschichte der Sozialdemokratie eng mit der Demokratisierung in den eigenen Ländern verbunden ist, unternahmen die sozialdemokratischen Parteien relativ wenig, um Regierungskritikern im Osten zu helfen. Während man gerade der SPD bis 1985 vorwerfen konnte, die Dissidenten zu vernachlässigen, war sie danach die Partei mit den meisten Kontakten über die Mauer hinweg. Der italienische Premierminister Bettino Craxi achtete streng auf die Trennung zwischen Politik und Moral und stand für ein moralisches Verhalten gegenüber den Dissidenten ein. Dabei unternahm er mehr als andere, um diesen zu helfen.

Im vierten Teil über die transnationale Friedens- und Solidaritätsbewegung vergleichen Kim Christiaens und Idesbald Goddeeris die belgische Hilfe für Polen nach der Einführung des Kriegsrechts 1981 mit der Unterstützung für Nicaragua in denselben Jahren. Christliche Gewerkschaften sammelten Spenden für Solidarnošč“. Sie taten dies im Einklang mit der klar westlichen Position der belgischen Regierung und von Neoliberalen wie Ronald Reagen und Margret Thatcher. Wie diese vertraten sie eine antisowjetische Position. In Nicaragua hingegen hatten die linksgerichteten Sandinisten unter der Führung von Daniel Ortega den von den USA gestützten Diktator Somoza gestürzt. Drittewelt-Gruppen unterstützten danach den Wiederaufbau des Landes und protestierten damit gegen die belgische Außenpolitik und die Verhältnisse in der ersten Welt. Gut bekannt ist, dass Hilfe stark durch die Anliegen der Geldgeber bestimmt wird. Dazu zeigen die beiden Autoren, wie auch die Empfänger auf deren Form Einfluss nahmen. „Solidarnošč“ wandte sich ausschließlich an andere Gewerkschaften, weil eine Unterstützung durch westliche Parteien von der polnischen Regierung zur Diskreditierung hätte benutzt werden können. Gerade weil 1981 die Aufmerksamkeit in Europa so stark auf die Ereignisse in Polen ausgerichtet war, mussten die Sandinisten durch Informationskampagnen zeigen, wofür welche Form von finanzieller und materieller Hilfe benötigt wurde.

1976 bzw. 1979 begann mit der Stationierung erst sowjetischer und dann amerikanischer atomarer Mittelstreckenraketen der sogenannte zweite Kalte Krieg. Kacper Szulecki vergleicht die Reaktionen der Bürgerbewegungen. Während man im Westen mit dem Slogan „Lieber rot als tot“ einseitige Abrüstung als Zeichen des guten Willens forderte, warnte man im Osten vor solcher Naivität und betonte mit dem Stichwort des „unteilbaren Friedens“, dass die Grundlage dafür die Gewährung von Menschenrechten sei. Es kam zum direkten Dialog zwischen dem Historiker E. P. Thompson, dem Hauptinitiator von END (European Nuclear Disarmament) und Vertretern der Charta 77. In der Folge stellten sich  Thompson und viele END-Aktivisten auf die Seite der tschechischen Bürgerrechtler und forderten die Gewährung von Menschenrechten als Teil einer „Entspannungspolitik von unten“. Während man die Studie als Beispiel für einen erfolgreichen transnationalen Lernprozess deuten kann, endet der Autor mit der Feststellung, dass der Dialog mit der Machtübernahme der Dissidenten 1989 abrupt endete. Die Frage nach den Gründen dafür öffnet ein neues Forschungsfeld für eine transnationale Geschichte der Nach-Wendezeit.

Abschließend zeigt Holger Nehring, wie die Friedensbewegung in den deutschen Staaten eine Grundlage für die Beendigung des Kalten Krieges und die friedliche Revolution schuf. Die beiden Regierungen nahmen die Friedensaktivisten im eigenen Land spiegelbildlich wahr. In Bonn hielt man sie für kommunistisch, in Ostberlin für kapitalistisch infiltriert. Tatsächlich entstand die Friedensbewegung in beiden Ländern als Reaktion auf die Modernisierung des nuklearen Waffenbestands. Während im Westen die Furcht vor Vernichtung stark durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs geprägt waren, erlebte man in der DDR die Teilung Deutschlands eher als Resultat des Kalten Krieges. Im Westen teilte man seit den siebziger Jahren selbst auf Regierungsebene die Überzeugung, dass man bei innerstaatlichen Konflikten in erster Linie gewaltfrei vorgehen müsse. In der DDR hingegen setzte man bis Anfang Oktober 1989 gegenüber den Friedensdemonstranten Gewalt ein. Statt die Macht zu stärken, diskreditierte diese aber vielmehr die Regierung und bereitete damit den Weg für den Sturz von Erich Honecker am 18. Oktober.

(Ost-)Europa hat eine Geschichte intensiver Verflechtungsbeziehungen. Es ist das Verdienst des Herausgebers und der Autoren, diese für die Jahrzehnte zwischen Prager Frühling und den gewaltlosen Revolutionen von 1989 sichtbar gemacht zu haben.

Eva Mäder, Winterthur

Zitierweise: Eva Mäder über: Entangled Protest. Transnational Approaches to the History of Dissent in Eastern Europe and the Soviet Union. Ed. by Robert Brier. Osnabrück: fibre, 2013. 262 S. = Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, 31. ISBN: 978-3-938400-96-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maeder_Brier_Entangled_Protest.html (Datum des Seitenbesuchs)

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