Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Eva Maeder

 

Ein weißer Fleck in Europa… Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West. Hrsg. von Thomas M. Bohn und Victor Shadurski. Bielefeld: Transcript, 2011. 266 S. ISBN: 978-3-8376-1897-6.

Inhaltsverzeichnis:

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Was ist Belarus? Das komplizierteste Land der Welt, so der Journalist Wolfgang Büscher, oder ein Ort, von dem man gemäß dem Historiker Ingo Petz lernen kann, was europäisch sein bedeutet? Um die Frage nach der belarussischen Identität zu beantworten und ein Netzwerk zur Erforschung der Belarus zu gründen, hatten sich gut zwei Dutzend Historiker und Publizisten aus Belarus, Deutschland und der Schweiz 2009 in Gießen versammelt. Thomas Bohn und Victor Shadurski haben die Tagungsreferate ediert und in einem gut lesbaren Taschenbuch veröffentlicht. Dieses sei all denen zur Lektüre empfohlen, die mehr über das Land an der EU-Außengrenze wissen wollen. Dank der einheitlichen Struktur und der chronologisch-thematischen Anordnung der Aufsätze präsentiert sich der Band sehr geschlossen. Nach zwei einleitenden Texten folgt ein erster kürzerer Block über die Entstehung und den Stellenwert der belarussischen Sprache, danach der Hauptteil zur Geschichte der Belarus von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart.

Thomas Bohn weist in seiner Einleitung darauf hin, warum bisher vergleichsweise wenig über das Land bekannt ist. Von den letzten zwei Jahrzehnten abgesehen, bildete es während praktisch seiner ganzen Geschichte einen Teil des polnisch-litauischen und danach des russischen Großreiches. Die Vereinnahmung durch den westlichen wie den östlichen Nachbarn wirkt noch heute in der Geschichtsschreibung fort: während gewisse Historiker die große Vergangenheit imGoldenen Mittelalter‘ verorten, idealisieren andere dieRussenzeit‘. Um dieser Spaltung zu entkommen, rät Bohn, eher Bevölkerung und Territorien ins Auge zu fassen statt Staat und Nation. Im vorliegenden Band wird sein Vorschlag erst teilweise umgesetzt, bildet doch die Klärung dieser Begriffe eine Voraussetzung, um jenseits der nationalstaatlichen Konzepte Geschichte schreiben zu können. Als zweite Einleitung dient ein Essay von Ingo Petz, in welchem dieser das Land mit einem Menschen in Dauerpubertät vergleicht, der gerade durch sein Zaudern und seine Unsicherheit Sympathien weckt. Was man von diesem Bild sicher übernehmen kann, ist das Übergangshafte, das fast alles in der Belarus zu prägen scheint.

Die drei folgenden Texte erklären, warum das Belarussische mehr eine Sprache der Verkehrsschilder als eine Verkehrssprache ist. Dies liegt erstens an der Geschichte: Seit dem 17. Jahrhundert verlor die ehemalige Kanzleisprache des Großfürstentums Litauen ihren hohen sozialen Status und wurde mit der Polonisierung des Adels zur Bauernsprache. Während in allen anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion nach 1991 die Nationalsprache gefördert wurde, setzte sich hier die Russifizierung fort. Zweitens sind die Bedingungen, um aktive muttersprachliche Kompetenzen zu entwickeln, ungünstig. In den Schulen wird nur während weniger abwählbarer Lektionen auf Belarussisch unterrichtet. Auch im Fernsehen spielt es eher eine marginale Rolle. Beliebt sind immerhin die belarussischen Sandmännchengeschichten, weil das exotisch klingende Gute-Nacht-Lied faszinierender klingt als das russische Pendant. Drittens gibt es für das Belarussische zwei verschiedene Schreibweisen (die Taraškevica bzw. die Narkomaŭka), die sich allerdings nur wenig unterscheiden. Die Existenz von zwei Varietäten erschwert das Lernen und mindert die Attraktivität der Sprache. Als Folge der ungünstigen Voraussetzungen fand seit 1945 ein Sprachwechsel statt: Immer weniger Menschen sprechen noch einen belarussischen Dialekt, immer mehr verständigen sich in der belarussisch-russischen Mischsprache, der «Trasjanka» oder ganz auf Russisch.

Der historische Teil beginnt mit Überlegungen zur Historiographie. Beim Entwickeln einer neuen Geschichtsschreibung fällt die Kritik am Historischen Materialismus leicht. Es bereitet aber deutlich mehr Mühe, alternative Konzepte zu schaffen. Zu nutzen wäre dabei die belarussische Fähigkeit, kulturelle Einflüsse aus West wie Ost zu absorbieren.

Wenn man es als Kern des Belarussischen betrachtet, eine Mischung verschiedener Kulturen zu bilden, so ist dieser Hybridcharakter spätestens seit dem ausgehenden Mittelalter entstanden, wie die fünf Aufsätze zu Belarus in der Frühen Neuzeit zeigen. Die litauischen Großfürsten erwarben im 14. Jahrhundert das Fürstentum Polock/Polack und vereinten ihr Gebiet zweihundert Jahre später mit Polen. Hier bildete Belarus bis ins 17. Jahrhundert in gewisser Weise die östliche Peripherie der lateinischen Kultur und wurde danach zur westlichen Grenze der russischen Welt. Ob hier oder dort, das Land bildete keine Schranke, sondern vielmehr Kontaktzone.

Eine Art doppelter Identität lässt sich während dieser Zeit auch bei den drei größten Bevölkerungsgruppen des Landes feststellen: die Adligen stammten von belarussischen Landsitzen, hatten aber die polnische Kultur und den katholischen Glauben angenommen und galten wie beispielsweise der Dichter Adam Mickiewicz deshalb oft als Polen. Die Bauern gehörten bis ins 19. Jahrhundert mehrheitlich zur unierten Kirche und unterstanden damit der päpstlichen Jurisdiktion. Dabei blieben sie aber orthodox geprägt und kehrten nach 1830 ohne größeren Widerstand zur orthodoxen Kirche zurück. Die Juden schließlich vermittelten zwischen Stadt und Land und vermochten sich in verschiedenen Kulturen zu behaupten, durften aber den «Ansiedlungsrayon»einen von der Nordsee bis zum Schwarzen Meer verlaufenden Streifen westlich des alten Territoriums des Moskauer Staates nicht verlassen.

Obwohl der Begriff dafür noch nicht existierte, nahmen auch bereits die Zeitgenossen die Multikulturalität der belarussischen Gebiete wahr. So registrierte Katharina die Große, als sie 1772 Polock/Polack besuchte, erstaunt die Vielfalt an Sprachen und fühlte sich dadurch an den Turmbau von Babel erinnert. Die Völker lebten eher neben- als miteinander und auch nicht immer konfliktfrei. Aus heutiger Sicht bleibt die Koexistenz großer Gegensätze auf kleinem Raum dennoch erstaunlich. Im 19. Jahrhundert entzogen ihr die sich gegenseitig ausschließenden Nationalismen und die russischen Herrschaftsvorstellungen die Grundlage. Der Zweite Weltkrieg schließlich bereitete der ethnischen und kulturellen Vielfalt ein Ende.

Sieben weitere Aufsätze schildern diese Geschichte. Weil die soziale Basis fehlte und der polnische und russische Nationalismus dominierten, entstanden erst um 1900 Ansätze einer Nationalbewegung. Diese blieb weitgehend wirkungslos, bis der Erste Weltkrieg entscheidende Veränderungen brachte. Die deutsche Besatzung ermöglichte 1918 die Proklamation einerBelarussischen Nationalen Republik“, die aber ein Staat auf dem Papier blieb und von der sowjetischen Regierung nicht anerkannt wurde. Die Eroberung durch die Rote Armee 1922 führte zur Gründung der Sozialistischen Sowjetrepublik Belarus in den östlichen und zentralen Gebieten, während die westlichen Polen angegliedert wurden. Der Zweite Weltkrieg bzw. der Große Vaterländische Krieg brachte dieWiedervereinigung“ der von Belarussen besiedelten Gebiete, aber auch die Ermordung der Juden und zahlreicher Belarussen sowie die Vernichtung von über 9000 Dörfern und 200 Städten. Insgesamt schrumpfte die Bevölkerung um rund ein Drittel auf 6,3 Millionen.

Aus der weitgehenden Zerstörung entstand nach 1945 ein neues Land. In vielen Städten übernahmen erstmals Ostslaven (Russen und Weißrussen) die Mehrheit, Industrialisierung und Urbanisierung brachten Wohlstand, die Russifizierung setzte sich fort.

In der letzten Stadtgründung der Sowjetunion, dem ukrainischen Tschernobyl, ereignete sich 1986 allerdings auch die Reaktorkatastrophe, deren Fallout zu 70 % auf belarussischem Boden niederging und hier drei bis vier Millionen Menschen zu Strahlenopfern gemacht hat. Der nukleare Supergau läutete das Ende der Sowjetunion und den Beginn der belarussischen Nationalbewegung ein. Die letzten fünf Beiträge des Bandes schildern die Veränderungen seit 1991. Es entstand erstmals ein unabhängiger Staat Belarus. Bei der Suche nach der nationalen Identität griff die Regierung anfänglich auf die Symbole aus der polnisch-litauischen Zeit zurück. Nach seinem Machtantritt 1994 ersetzte Lukašenka diese wieder durch die sowjetischen Symbole. Da viele Bürger noch sowjetisch sozialisiert sind und mit der Nachkriegszeit positive Erinnerungen verbinden, führte die Aufnahme von sowjetischen Elementen in die Staatsideologie Lukašenkas kaum zu Protesten. Vielmehr zeigt sich auch darin, wie gut sich die Belarussen an die herrschenden politischen Verhältnisse anpassen können.

Den Autoren des Sammelbandes ist es vorbildlich gelungen, den oft negativen Berichten über Belarus kompetente, sachliche und zugleich optimistisch stimmende Beiträge gegenüberzustellen. Politisch fehlt das Nicht-Europaratsmitglied Belarus noch in der europäischen Staatengemeinschaft. Kulturell hingegendas zeigt dieses Buchgehört es längst dazu.

Eva Maeder, Winterthur

Zitierweise: Eva Maeder über: Ein weißer Fleck in Europa… Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West. Hrsg. von Thomas M. Bohn und Victor Shadurski. Bielefeld: Transcript, 2011. 266 S. ISBN: 978-3-8376-1897-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maeder_Bohn_Ein_weisser_Fleck_in_Europa.html (Datum des Seitenbesuchs)

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