Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Eva Maeder

 

Elissa Bemporad: Becoming Soviet Jews. The Bolshevik Experiment in Minsk. Bloomington, IN, Indianapolis: Indiana University Press, 2013. XI, 276 S., 14 Abb., 1 Kte. = The Modern Jewish Experience. ISBN: 978-0-253-00822-0.

In Minsk lebten 1923 48.000, 1939 71.000 Juden. Ihr Anteil an der Stadtbevölkerung bewegte sich in dieser Zeit zwischen 43 und 30 Prozent. Es war die einzige jüdisch geprägte Stadt, die zur Hauptstadt einer Sowjetrepublik wurde. Was das für die Stadt bedeutete und wie sich die jüdische Bevölkerung zum neuen Staat verhielt, untersucht Elyssa Bemporads in ihrer Monographie. Diese hatte 2012 den Fraenkel-Preis für zeitgenössische Geschichte erhalten. Sie ist in sieben vorwiegend thematische Kapitel gegliedert, nämlich: Vorgeschichte bis 1917, Auswirkungen der Oktoberrevolution, jüdische politische Institutionen wie „Bund“ und „Evsekcija“, Bedeutung des Jiddischen, Stellung der Frau, der Religion und die Folgen des Terrors der 1930er Jahre. Die Autorin, Assistenzprofessorin am Queens College in New York und Herausgeberin einer Zeitschrift über jiddische Literatur und Kultur, stützt sich auf Quellen aus russischen und belarusischen staatlichen Archiven, Zeitungen und anderen Publikationen der Vorkriegsjahre sowie auf Interviews, welche israelische Forscher zwischen den 1960er und den 1980er Jahren durchgeführt haben. Diese wurden bisher noch kaum für die Forschung genutzt und liegen zeitlich näher bei den erzählten Ereignissen als die nach 1991 aufgezeichneten Erinnerungen.

Bemporad beginnt mit einem Abriss der jüdischen Geschichte von Minsk bis 1917. Das Privileg des polnischen Königs Stepan Bathory zu Beginn des 16. Jahrhunderts stand am Anfang einer Reihe von Maßnahmen, welche die Niederlassung von Juden in der Stadt an der Svislač förderten. Die Bedingungen blieben auch nach der zweiten Teilung Polens 1791 und dem Anschluss an das russische Reich günstig. 1897 waren 52 Prozent der Stadtbevölkerung jüdisch. Die meisten Juden arbeiteten als Handwerker, was zur Folge hatte, dass in gewissen Berufszweigen wie Tischler, Schreiner, Schuhmacher Juden einen Anteil von über 70 Prozent besaßen. Die große Anzahl bildete einen gewissen Schutz gegen Antisemitismus. Juden mit ihrer Kleidung und Sprache, ihren Bräuchen und religiösen Praktiken gehörten zum Stadtbild. Mechanismen der Ausgrenzung funktionierten in Minsk schlechter als in Gemeinden, in denen Juden in der Minderheit waren. Betroffen waren sie aber auch hier von der staatlichen Diskriminierung. Vor 1917 erhielten Juden keine Stellen beim Staat und keine Studienplätze an den Hochschulen. Sie durften sich nur im Gebietsstreifen entlang der Grenze Großrusslands, im sogenannten „Ansiedlungsrayon“, niederlassen.

Nach dem Sturz des Zaren im März 1917 stellte die Provisorische Regierung die Juden den andern Bevölkerungsgruppen gleich. Die Bolševiki bestätigten nach ihrer Machtübernahme im November 1917 die Rechte der Juden und sprachen sich deutlich gegen jede Form von Antisemitismus aus. Damit unterschieden sie sich positiv von der zarischen Regierung. Da viele jüdische Knaben und Mädchen lesen und schreiben lernten und die Juden als politisch vertrauenswürdig galten, fanden sie leichter Arbeit beim Staat als die aus dem ländlichen Milieu stammenden Belarussen. Die rasche Einnahme vorher für sie unzugänglicher Stellen wirkte auf Nichtjuden teilweise negativ als ‚Dominanz‘. Solche Wahrnehmungen blieben aber bedeutungslos. Vielmehr ermöglichte das neue Regime eine Fülle jüdischer Aktivitäten und stärkte damit jüdische Verhaltensweisen.

Erhalten blieben auch die Strukturen und der Einfluss des „Bundes“, der jüdischen Arbeiterpartei aus der Zeit vor der Oktoberrevolution. Diese wurde wohl 1921 verboten, doch viele ihrer Mitglieder traten in die „Evsekcija“, die jüdische Sektion der Kom­mu­nis­tischen Partei, über und besaßen damit zum ersten Mal eine reale Möglichkeit, ihre Überzeugungen umzusetzen. Sie schufen Organisationen nur für Juden, um damit eine Alternative sowohl zum (in der Sowjetunion verbotenen) Zionismus wie zur Assimilation an die russische Kultur zu bieten. Erhalten blieben auch Räume und Orte, die an den Bund erinnerten. Dazu gehörte die Bibliothek des Zentralkomitees des Bundes sowie der jüdische Arbeiterklub, der weiterhin den Namen des Bundisten und Kämpfers für die jüdische Autonomie Bronislaw Grosser trug. Mehr noch: 1922 begann eine Kampagne für den Bundisten Hirsch Lekert, der 1902 den Generalgouverneur Litauens ermordet hatte. Diese führte schließlich zur Umbenennung von drei Straßen und zur Errichtung einer Büste auf dem „Freiheitsplatz“ an der Stelle des zerstörten Denkmals für Alexander II. Nach 1925 wurde die öffentliche Erinnerung an den „Bund“ allerdings nicht länger geduldet. Die ehemals bundistische Zeitung Vecker (Wecker) erhielt den Namen Oktjabr (Oktober), der Grosser- wurde zum Leninclub.

Ein wichtiges Ziel des Bundes, die Förderung des Jiddischen, wurde im Rahmen der sowjetischen Nationalitätenpolitik bis 1928 mit viel Energie und beachtlichen Resultaten verwirklicht. In Minsk wurden auf allen Schulstufen rein jiddische Schulen geschaffen, an denen selbst Fächer wie Physik in der Muttersprache der Schüler unterrichtet wurden. An den Universitäten entstanden jiddische Abteilungen und ein Studiengang zur jüdischen Kultur und Geschichte; selbst Parteiprotokolle wurden auf Jiddisch verfasst. Das Ziel war, die Dominanz des Russischen zu brechen. Weil ein Großteil der jüdischen Bewohner von Minsk sich tatsächlich mehrheitlich auf Jiddisch verständigte, waren die Voraussetzungen dafür viel besser als bei den in Minsk lebenden Belarussen, deren Sprache viel näher beim Russischen lag und die daher nach dem Umzug in die Stadt in der Regel das Belarusische durch eine Mischsprache (Trasjanka) ersetzten.

Während mit der Sprache die jüdische Identität gefestigt werden sollte, wurde gleichzeitig die Ausübung der jüdischen Religion eingeschränkt. Die Rabbiner verloren ihre Kontrollfunktion bei der Produktion von koscherer Nahrung an staatliche Organe sowie die Hausfrauen; die Beschneidung wurde von nun an auch beim Arzt vollzogen. Beides zeigt aber auch, dass viele Juden, sogar Kommunisten, an den Ritualen und Praktiken des Judentums festhielten. Während rund 100 Synagogen geschlossen wurden, blieben bis 1930 immer noch mehr als 540 weitere Synagogen und Gebetsstuben geöffnet. Weil die Metzger mehrheitlich Juden waren, gab es in vielen Stadtvierteln mehr koscheres Fleisch als Fleisch von nicht geschächteten Rindern im Angebot.

Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, die generell das sowjetische Experiment kennzeichnet, zeigte sich auch beim Versuch, die Geschlechterbeziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen. Die Gleichberechtigung, die zu einem „empowerment“, einem Einfluss- und Autonomiegewinn der Frauen hätte führen können, kollidierte laut Bemporad mit dem Machtanspruch der Männer. Diese hielten vielfach am bisherigen Rollenverständnis fest und wollten nicht, dass sich ihre Frauen öffentlich betätigten. Angesichts der ungünstigen Voraussetzungen erstaunt es nicht, dass der žen­otdel, die Frauenabteilung des Zentralkomitees der Partei – bei dem sich vielfach ehemalige Bundistinnen betätigten –, die Frauen nicht zu Agentinnen der Revolution machen konnte. Kleine Erfolge gab es dennoch; so gelang vielen Jüdinnen in dieser Zeit der soziale und berufliche Aufstieg.

In den 1920er Jahren gehörten das Jiddische und das Polnische noch zu den vier amtlichen Sprachen von Belarus. Während der Terrorjahre aber stellte die sowjetische Führung beide Minderheiten unter den Generalverdacht einer Zusammenarbeit mit den Volksangehörigen in Polen. Die jiddischen Schulen wurden geschlossen und besonders viele Juden (wie auch Polen) verurteilt. Allerdings unterscheidet sich das Jahr 1937 insofern ‚positiv‘ von 1947, als die Juden damals nicht allein als Opfer herausgesondert wurden. Zwei Jahre nach dem Krieg und dem Holocaust hingegen wurde angeblich eine spezifisch jüdische „Verschwörung“ aufgedeckt und die neu eröffneten jiddischen Schulen sowie das jüdische Theater wurden für immer geschlossen.

Dank den kompakten jüdischen Nachbarschaften, dem Zuzug von Juden aus den Schtetln der Umgebung sowie dem Siegeszug des Jiddischen blieb das jüdische Gepräge von Minsk bis 1941 erhalten. Bemporad klammert die Vernichtung der Juden zwischen 1941 und 1945 durch die Nazis aus. Sie ist weder ihr Thema noch sollte sie die Darstellung der Blütejahre vor 1929 überschatten. Ziel der Autorin war es vielmehr, der jüdischen Gemeinde von Minsk, die während des Weltkriegs brutal zerstört und danach aus dem öffentlichen Bewusstsein gelöscht wurde, ein Denkmal setzen. Dies ist ihr auf solide Weise gelungen.

Eva Maeder, Winterthur

Zitierweise: Eva Maeder über: Elissa Bemporad: Becoming Soviet Jews. The Bolshevik Experiment in Minsk. Bloomington, IN, Indianapolis: Indiana University Press, 2013. XI, 276 S., 14 Abb., 1 Kte.. = The Modern Jewish Experience. ISBN: 978-0-253-00822-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maeder_Bemporad_Becoming_Soviet_Jews.html (Datum des Seitenbesuchs)

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