Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Eva Maeder

 

Natal’ja A. Aralovec: Gorodskaja sem’ja v Rossii. 1927–1959 gg. [Die städtische Familie in Russland, 1927–1959]. Tula: Izdat. Grif i K, 2009. 303 S., Tab. ISBN: 978-5-8125-1235-4.

1926 lebten in der Sowjetunion gut 147 Millionen Menschen. 1939 waren es bereits 170 Millionen, 1959 dann 208 Millionen. Die Zahl städtischer Familien wuchs noch schneller, von 3,9 Millionen (1926) auf 8,4 Millionen (1939). Doch wie setzten sich die Personengruppen zusammen, die unter dem administrativen Begriff „Familie“ erfasst wurden? Handelte es sich um Großfamilien dörflichen Typs oder bereits um moderne Kernfamilien, die nur noch aus Eltern und Kindern bestanden? Wie veränderte sich die Familiengröße während der beschleunigten Urbanisierung und Industrialisierung nach 1929, des Terrors der dreißiger Jahre und des Zweiten Weltkriegs?

Diese Fragen beantwortet Natal’ja Aralovec in ihrer Monographie über die russländische Familie zwischen 1926 und 1959. Der zeitliche Rahmen richtet sich nach den wichtigsten Quellen des Buches, den Volkszählungen von 1926 und 1959. Die Zeit zwischen der Volkszählung von 1897 und der von 1926 hat Aralovec bereits mit ihrer 2003 erschienen Dissertation („Gorodskaja sem’ja v Rossii, 1897–1926 gg.: istoriko-demogra­fi­čes­kij aspekt“) abgedeckt. Ausgewertet hat die Historikerin außerdem unpublizierte statistische Daten aus den Zentralen Staatsarchiven in Moskau, normative Dokumente zum Familienrecht und zur öffentlichen Moral, Studien sowjetischer Soziologen zu spezifischen Gebieten und Themen wie der Gesundheit und Hygiene in Nižnij Tagil sowie die übrige Forschungsliteratur zur Demographie der russländischen Familie. Das Buch ist ähnlich aufgebaut wie die Geschichte der russländischen Familie auf dem Dorf von Ol’ga Verbickaja, die im selben Jahr erschienen ist, und eignet sich dadurch hervorragend für den Vergleich.

Die Autorin gliedert ihren Stoff in drei zeitliche Blöcke (1927–1939, 1939–1945, 1945–1959). Dabei beginnt sie jeweils mit einem Kapitel über alle mit der Ehe verbundenen Größen wie das Heiratsalter der beiden Partner, die Ehedauer sowie die Anzahl Ehen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Weil das verheiratete Paar den Kern und Ausgangspunkt der Familie bildet, führt ein Wandel dieser Faktoren immer auch zu Veränderungen der Familie. Der Vergleich der drei Blöcke zeigt nun, warum im Laufe der Jahrzehnte in den Städten kleinere Familien entstanden.

Nach der Oktoberrevolution von 1917 schufen die Bolschewiki mit der Absicht, die bisherige patriarchalisch organisierte Familie zu unterhöhlen, ein grundsätzlich neues Rechtssystem. Es führte die Zivilehe ein, gewährte Frauen die gleichen Rechte wie Männer, schuf ein einfaches Scheidungsverfahren und legalisierte die Abtreibung. Trotz dieser Modernisierung behielt die Institution Ehe ihre Selbstverständlichkeit. Weiterhin gehörte es zum „Lebensplan“ von jungen Männern und Frauen, früh zu heiraten und Kinder zu bekommen. Durchschnittlich verbrachte eine Frau 30 Jahre in ihrem Leben in der Ehe, ein Mann sogar 33 Jahre. Frauen, die um 1900 geboren wurden und nach 1920 in ihre „Kinderphase“ traten, zeugten durchschnittlich 5,3 Kinder.

In zwei Bereichen begannen das neue Recht und die bessere medizinische Infrastruktur in der Stadt allerdings, die gesellschaftliche Praxis zu verändern. Erstens trieben Frauen häufiger ab als auf dem Dorf. 1926 gab es auf 100 Geburten in Moskau 46 Abtreibungen, in den Hauptstädten der Gouvernements 32, auf dem Land hingegen nur zwei. Zweitens ließen sich weit mehr Russen scheiden als vor 1917, als eine Scheidung nur mit der Bewilligung der obersten Kirchenbehörde möglich war. 1925 kamen auf 1000 geschlossene Ehen bereits 132 Scheidungen, wobei diese Zahl im Vergleich zu den USA mit 148 Scheidungen weiterhin recht niedrig lag. Als weitere Ursache beider Erscheinungen betrachtet die Autorin den neuen Stellenwert der Familie. Diese bildete in der Stadt nicht länger eine Wirtschaftseinheit, sondern entwickelte sich immer mehr zur selbstgewählten Lebensgemeinschaft, deren Größe und Fortbestehen von den Mitgliedern beeinflusst werden konnte.

In den dreißiger Jahren kamen zwei weitere Faktoren dazu. Erstens führte der massenweise Zuzug aus dem Dorf während der beschleunigten Industrialisierung und Urbanisierung nach 1929 zur Verschlechterung der hygienischen Verhältnisse in den Städten. In den überfüllten Wohnungen breiteten sich Infektionskrankheiten aus und diese führten zu einem Anstieg der Kindersterblichkeit. Durch die Verhaftungen während des Großen Terrors nach 1936 wurden zweitens Familien auseinandergerissen, so dass Kinder teilweise allein zurückblieben. Mit einer sehr sorgfältigen Auswertung der wenigen dafür zur Verfügung stehenden Daten kann Aralovec zeigen, wie auch der Terror in beschränktem Maß zur Reduktion der Familiengröße beitrug.

Sehr deutlich führte der Große Vaterländische Krieg zur Verkleinerung der Familien. In der Sowjetunion wurden 30 Millionen Soldaten in die Armee rekrutiert, rund zehn Millionen kamen dabei um. Die Geburtenzahl fiel nach 1941, erhöhte sich nach 1944 wieder, erreichte aber nie mehr die alte Höhe. Frauen des Jahrgangs 1920 brachten durchschnittlich nur noch 2,7 Kinder zur Welt. Allerdings gab es in der Stadt vergleichsweise mehr Männer als auf dem Dorf, entsprechend höher lag die Heiratsquote.

Nach 1945 waren es laut Aralovec vor allem die geänderten Werte, die zu einer weiteren Verkleinerung der Familie führten. Rund 70 Prozent der Bevölkerung war weniger als 35 Jahre alt, mit der älteren Generation verschwand die Hochschätzung der patriarchalisch geführten Großfamilie endgültig. Wohl bezeichneten die meisten verheirateten Frauen noch ihren Mann als „Oberhaupt“ der Familie, sie hatten aber Mühe zu erklären, worin die Funktion dieser Einrichtung bestand. Junge Paare bezeichneten bei einer Umfrage in Leningrad 1962 Liebe als wichtigsten Grund ihrer Heirat und zogen ein Leben getrennt von den Groß- bzw. Schwiegereltern vor, gerade weil sie bei Fragen der Kindererziehung keine Einmischung wollten.

Der Wohnraum blieb aber beschränkt. Dies hinderte die befragten Paare wohl nicht am Heiraten, führte aber dazu, dass sie sich auf ein bis zwei Kinder beschränkten und damit weniger Kinder zeugten, als eigentlich gewünscht und für den Erhalt der Bevölkerung notwendig. Damit führte der Anstieg der Heiratsrate nach 1950 nicht mehr zur Erhöhung der Geburtenrate, während gleichzeitig die Lebensdauer wuchs. 1959 betrug sie durchschnittlich bereits 65 Jahre, womit Männer rund 23, Frauen 28 Jahre länger lebten als 1926. Damit waren alle Faktoren für die demographische Wende gegeben und die Entwicklung zur Überalterung und Reduktion der russländischen Bevölkerung eingeleitet.

Aralovec erklärt den Rückgang der Familiengröße in der russländischen Stadt fundiert wie detailliert und weist auch immer wieder auf die ethnischen Unterschiede innerhalb des großen und vielfältigen Landes hin. Am frühesten und stärksten fand der Modernisierungsprozess bei den Angehörigen der baltischen Völker statt, am langsamsten bei Menschen aus dem Kaukasus und Zentralasien. Weniger überzeugend sind hingegen die Rückschlüsse auf veränderte Werte und Einstellungen. Besonders betont die Autorin, dass sich seit den zwanziger Jahren die Bedeutung der Familie als „Bund geistig naher Menschen“ ständig erhöhte. Das mag zutreffen, doch fehlen die Quellen, um das Fehlen enger zwischenmenschlicher Bindungen in der früheren Zeit genügend repräsentativ nachweisen zu können.

Heute leben über 70 Prozent der Bewohner der Russischen Föderation in Städten. Weiterhin gibt es mehr Familien als Alleinstehende. Häufig zählen diese allerdings weniger als vier Personen. Aralovec’ Verdienst ist es, die Entstehung dieser Situation aufgezeigt zu haben.

Eva Maeder, Winterthur

Zitierweise: Eva Maeder über: Natal’ja A. Aralovec: Gorodskaja sem’ja v Rossii. 1927–1959 gg. [Die städtische Familie in Russland, 1927–1959]. Tula: Izdat. Grif i K, 2009. 303 S., Tab. ISBN: 978-5-8125-1235-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Maeder_Aralovec_Gorodskaja_semja_1927.html (Datum des Seitenbesuchs)

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