Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Kolja Lichy

 

Julia Dücker: Reichsversammlungen im Spätmittelalter. Politische Willensbildung in Polen, Ungarn und Deutschland. Ostfildern: Thorbecke, 2011. 389 S., 6 Abb., Tab. = Mittelalter-Forschungen, 37. ISBN: 978-3-7995-4292-0.

Vergleichende europäische Geschichte empirisch zu betreiben, ist eine wesentlich mühsamere Aufgabe als über die Existenz europäischer Geschichtsräume zu philosophieren. Schon deshalb ist Julia Dückers komparatistische Dissertation zu begrüßen. Konsequent enthält sich die Verfasserin dabei längerer und aufwendigerer Reflexionen über den Vergleich im Allgemeinen und ihre konkreten Vergleichsfälle im Besonderen. Hier zeigt sich ein Zug der Arbeit, der im Falle eines Dreiervergleiches sicherlich vorteilhaft ist – Dücker ist pragmatisch und effizient. Teilweise stößt dieser Pragmatismus jedoch an gewisse Grenzen. So hätte man sich zumindest eine etwas genauere Reflexion der Forschungstradition zur vergleichenden Ständeforschung gewünscht, kann doch beispielsweise die rasche Abhandlung der einflussreichen Konzepte von Otto Hintze und Wim Blockmans in einer Fußnote nicht ganz befriedigen (S. 15, Anm. 14). Auch in Bezug auf die von ihr gewählten Vergleichsfälle reklamiert die Verfasserin explizit Pragmatismus, der sich insgesamt gesehen positiv auf die Arbeit auswirkt. Denn obwohl die Konzentration auf Deutschland, Polen und Ungarn eine mehr oder weniger implizite Aufnahme des Ostmitteleuropaparadigmas darstellt, kommt Dücker weitgehend ohne die verbreitete Begründungsrhetorik für historische Raumkonstruktionen aus.

Chronologisch beschränkt sich die Arbeit gut begründet auf die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts und damit auf die Herrschaftszeiten von Friedrich III. für das Heilige Römische Reich, Kazimierz IV. für Polen und Matthias Corvinus für Ungarn. Der Text gliedert sich in vier Hauptteile, von denen die ersten drei jeweils immer nach gleichlautenden Kriterien die Ständeversammlungen in Polen, Ungarn und im Reich behandeln. Auch der vierte Teil nimmt schließlich gleichermaßen das zuvor erprobte Frageschema auf und synthetisiert in diesem Rahmen vergleichend die in den ersten drei Teilen gewonnenen Ergebnisse.

Alle Teile der Arbeit gehorchen demnach einem strengen Gliederungsschema, das stets in der gleichen Reihenfolge (1.) allgemeine Hintergrundinformationen zur Politikgeschichte und zu Verfassungsverhältnissen abhandelt, (2.) die Modalitäten von Tagungseinberufungen, Tagungsorten und Teilnehmerkreisen beschreibt und über die Phänomenologie von Prozedur und Zeremoniell (3.) zur zeitgenössischen Fremd- und Selbstwahrnehmung der Versammlungen (4.) kommt. Auf diese Weise gelingt der Verfasserin, neben den Rahmenbedingungen politischen Handelns vor allen Dingen die Vorstellungen und Behauptungen politischer Ordnung in den Mittelpunkt ihrer Darstellung zu rücken. Erstaunlich scheint dabei, dass sich in einen Text, der eine Lanze für die „Kulturgeschichte des Politischen“ Münsterscher Prägung bricht, eine Formulierung einschleicht, die das Zeremoniell als „Verkleidung“ harter Strukturen dastehen lässt (S. 262).

Insgesamt schälen sich neben der Bedeutung des Monarchen für die jeweiligen Versammlungen insbesondere die Präsenzkultur und die Offenheit einer bedingten Institutionalisierung als Gemeinsamkeiten der drei Vergleichsfälle heraus. Deutlich wird in diesem Zusammenhang die relative Flexibilität der Teilnehmerkreise, wobei Dücker der Frage nach der Teilnahme an den Versammlungen starkes Gewicht zukommen lässt. Für alle drei Reichsversammlungen darf gelten, dass ihre Kompetenzen vor allem Außenpolitik und Finanzen berührten und der Gemeinwohltopos in allen Beispielfällen als konsensstiftender Faktor gelten darf. Den Erfolg politischer Willensbildung innerhalb der Gremien sieht die Autorin dabei von der „Binnen­autorität“ einzelner Akteure und damit auch essentiell von den konkreten Funktionsmechanismen der Versammlungen abhängig. Als sehr instruktiv erweist sich im Übrigen ein Vergleich der – sehr wenigen – bildlichen Darstellungen der drei Reichsversammlungen in ihrem juridischen Kontext. Hier wäre eventuell eine etwas ausführlichere Beschäftigung mit den jeweiligen Codices begrüßenswert gewesen. Im Einzelnen ließe sich über Details streiten, so die Frage, ob die Städte für das Polen des 15. Jahrhunderts so systematisch aus dem politischen Willensbildungsprozess ausgeschlossen werden können, wie es Dücker tut. Auch ließe sich fragen, ob nicht eine stärkere Einbeziehung der zeitgenössischen politischen Theorie vorteilhaft gewesen wäre. In diesem Zusammenhang sei nur, in einer vergleichende europäische Perspektive zu kollektiven Entscheidungsgremien, auf den Konziliarismus verwiesen.

Das Resümee der Arbeit findet sich letztlich schon in der Kapitelüberschrift zum vierten Teil. Dass Alles gleich und doch irgendwie unterschiedlich sei, dieser Schlussfolgerung wird man sich ohne Weiteres anschließen können. Zugleich stellt sich allerdings die Frage, wie weiterführend diese Feststellung ist. Sie verzichtet auf normative Implikationen und teleologische Tendenzen, wie man sie etwa Hintze und Blockmanns ohne Weiteres unterstellen kann. Sie ist folglich differenziert und beschreibt mehr als sie urteilt. Aber eine weiterführende Diskussion provoziert solch ein Fazit auch nicht. Alles in Allem hat Dücker also eine informative, überlegte und stringent systematische Arbeit vorgelegt. Die Versuchung, gerade bei einem komparatistischen Ansatz immer weitere Vergleichsfaktoren zu verlangen, ist groß. In diesem Sinne ist Dückers konsequente Selbstbeschränkung richtig und kaum zu kritisieren. Ein wenig mehr Mut und an einigen Stellen eine etwas vertieftere Reflexion hätte man sich jedoch wünschen können.

Der Anhang bietet neben einigen im Text analysierten Abbildungen Auflistungen aller Sitzungen der drei Reichsversammlungen im behandelten Zeitraum sowie eine viersprachige Konkordanz der Ortsnamen. Hierbei bleibt allerdings die Frage offen, weshalb Dücker im Text so offensiv mit dem ungarischen Namen Mátyás Hunyadi operiert und die – im deutschsprachigen Raum – weitaus geläufigere Form Matthias Corvinus allein der Namenskonkordanz überlässt.

Kolja Lichy, Gießen

Zitierweise: Kolja Lichy über: Julia Dücker: Reichsversammlungen im Spätmittelalter. Politische Willensbildung in Polen, Ungarn und Deutschland. Ostfildern: Thorbecke, 2011. 389 S., 6 Abb., Tab. = Mittelalter-Forschungen, 37. ISBN: 978-3-7995-4292-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Lichy_Duecker_Reichsversammlungen_im_Spaetmittelalter.html (Datum des Seitenbesuchs)

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