Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ruth Leiserowitz

 

Im Kampf gegen die Cholera. Der jüdische Arzt Martin Hahn (1865–1934) als Forschungsreisender in Russland. Hrsg. von Juliane C. Wilmanns (†) / Dietrich von Engelhardt / Gerrit Hohendorf. Bearb. von Stephanie Neuner / André Hützen. Berlin [usw.]: LIT, 2012. 260 S., 3 Abb. = Münchner Beiträge zur Geschichte und Ethik der Medizin, 1. ISBN: 978-3-8258-0855-6.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1015953506/04

 

Im Zentrum des in drei Abschnitte gegliederten Buches stehen der deutschjüdische Arzt Martin Hahn (1865–1934) und seine Forschungsreisen, die er wiederholt zwischen 1890 und 1920 nach Russland unternahm. Der erste und kürzeste Teil beinhaltet eine Einführung in das wissenschaftliche Umfeld von Martin Hahn und dessen historischen Kontext, innerhalb dessen Stephanie Neuner die Entwicklung von Bakteriologie und Gewerbehygiene, Schwerpunkte Hahns im Zeitalter von industriellem und wissenschaftlichem Aufstieg, skizziert. Diesem folgt eine kurze, von Stephanie Neuner und André Hützen verfasste Einordnung in die Geschichte des Russischen Reiches um 1900. Im zweiten Abschnitt stellt André Hützen Leben und Werk des Hygienikers und Bakteriologen Martin Hahn vor. Der dritte Abschnitt enthält die von Juliane C. Wil­manns und André Hützen edierten Aufzeichnungen der Russlandreisen Martin Hahns.

Mit dieser Edition wird eine heute weitgehend vergessene Person gewürdigt, ein Wissenschaftler, der eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Gewerbehygiene spielte, gerne reiste, sich als guter und gewandter Reiseberichterstatter erwies und zudem als Arzt praktisch tätig war. Durch seine Kontakte zum Berner Medizin- und Chemieprofessor polnischer Herkunft Marcel von Nencki und einen Forschungsaufenthalt an dessen Institut für experimentelle Medizin in St. Petersburg kam er in enge Berührung mit Russland. Ein Ruf der Firma Nobel, die an der unteren Wolga mit Öl handelte, brachte ihn in diese Region, um die Ausbreitung der Cholera im Einzugsbereich der dortigen Firmenniederlassungen und der dazu gehörigen Ansiedlungen zu bändigen.

Hahn studierte zwischen 1884 und 1889 in Berlin, Heidelberg, Freiburg im Breisgau und München, u.a. bei Rudolf Virchow, Robert Koch und Max von Pettenkofer. Er interessierte sich für Bakteriologie, das Problem der Desinfektion und beschäftigte sich mit der Beschaffenheit der Eiweiße. Zwischen 1891 und 1893 arbeitete er bei Nencki in St. Petersburg und ging dann nach München, wo er sich habilitierte. Anschließend beschäftigte er sich vor allem mit Forschungen zur Gewerbehygiene. 1922 wurde Hahn in Berlin an der Universität zum Ordinarius berufen sowie zum Direktor des Hygiene-Instituts. Als er 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten auf Grund seiner jüdischen Herkunft seine akademischen Ämter verlor, ohne dass einer seiner Kollegen Einspruch erhoben hätte, bat er um Beurlaubung bis zur bald anstehenden Emeritierung. Hahn starb kurz darauf. Martin Hahn stand als Mediziner an der Spitze der wissenschaftlichen Forschung seiner Zeit und war an zahlreichen experimentellen Untersuchungen und Serien mitbeteiligt. Darüber hinaus interessierte es ihn, gewonnenes naturwissenschaftliches Wissen in gesundheitspolitische Praxis umzusetzen. Mit seinen Erkenntnissen im Bereich der experimentellen Bakteriologie versuchte er, aktuelle Probleme in der Sozial-und Gewerbehygiene zu lösen und derart auf Politik und Wirtschaft einzuwirken. Leider werden diese Betätigungsfelder und Aktivitäten im zweiten Abschnitt des Bandes nur kurz beleuchtet, da der Fokus der Veröffentlichung auf die Russland­reisen Hahns zur Cholerabekämpfung gerichtet ist.

In diesem dritten Abschnitt sind die Reiseaufzeichnungen Hahns sehr sorgfältig editiert veröffentlicht. Hahn hat sie teilweise rückblickend verfasst und für verschiedene Adressaten und Anlässe in neue Form gebracht, sodass über ein und dieselbe Reise mehrere, jedoch inhaltlich nicht differierende Schriftstücke vorliegen. Hahn hielt sich 1891/92 in St. Petersburg auf und wurde von dort an die untere Wolga gerufen, er besuchte auch Astrachan und unternahm eine Schiffstour auf dem Kaspischen Meer. Eine weitere Reise führte ihn 1904 nach Russland, wo er auch Turkmenistan, Samarkand, Buchara und auf dem Rückweg Baku besuchte.

In den Berichten schildert der Autor seine vielfachen Beobachtungen. Einerseits sind sie landeskundlicher Art, andererseits beschreibt er zahlreiche Begegnungen mit sehr unterschiedlichen Menschen, und darüber hinaus verliert er nie den Blick des Arztes und Hygienikers. So erhält der Leser einen knappen, aber nicht minder präzisen Eindruck von den dortigen Choleraepidemien, deren Verlauf und Eindämmung. Deutlich nahm Hahn die Ansätze wirtschaftlicher und technischer Modernisierung wahr, beschrieb aber genauso pointiert seine Beobachtungen der politischen und gesellschaftlichen Erstarrung im Land. Er genoss das Kulturleben und den gesellschaftlichen Umgang in St. Petersburg, wusste aber auch, wie er sich in der russischen Provinz bewegen musste. Besonders faszinierte ihn die vielfach spannungsgeladene Multiethnizität im Kaukasus und in Mittelasien. Einen exzellenten Einblick gibt er in die Arbeitskräftesituation ausländischer Firmen im vorrevolutionären Russland. Die angeworbenen einheimischen Arbeiter existierten auf dem niedrigsten Standard, die qualifizierten Arbeitskräfte waren zumeist angeworbene Ausländer, die in eigenen Bezirken lebten. Hahn liefert nicht nur farbige Bilder des vorrevolutionären Russland, sondern analysiert auch treffsicher. Besonders wertvoll sind auch die Schilderungen über Arbeiten und Arbeitssituationen ausländischer Wissenschaftler im russischen Raum, die interessante Einblicke in den damaligen Wissenstransfer und das mobile Verhalten liefern. Ein letzter Text trägt die ÜberschriftErfahrungen in Russland. Er wurde vermutlich im letzten Lebensjahr Hahns von ihm verfasst und trägt eher resümierende Züge. Die Tatsache, dass am Anfang die Situation der Juden in Russland behandelt wird, scheint dem Zeitpunkt der Abfassung (1933/34) und der sich für Hahn daraus ergebenden Situation geschuldet zu sein.

Gerne würde man mehr von und über diesen facettenreichen Wissenschaftler lesen. Das Schriftenverzeichnis im Anhang verrät, dass es auch Hahnsche Aufzeichnungen von Russland 1913 und Russland 1918 gibt, wie auch Reiseaufzeichnungen aus Indien und Ostafrika. Vielleicht liefert diese sehr gelungene Veröffentlichung Impulse für eine weitere Beschäftigung mit diesem zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Wissenschaftler?

Ruth Leiserowitz, Warschau

Zitierweise: Ruth Leiserowitz über: Im Kampf gegen die Cholera. Der jüdische Arzt Martin Hahn (1865–1934) als Forschungsreisender in Russland. Hrsg. von Juliane C. Wilmanns (†) / Dietrich von Engelhardt / Gerrit Hohendorf. Bearb. von Stephanie Neuner / André Hützen. Berlin [usw.]: LIT, 2012. 260 S., 3 Abb. = Münchner Beiträge zur Geschichte und Ethik der Medizin, 1. ISBN: 978-3-8258-0855-6, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Leiserowitz_Wilmanns_Im_Kampf_gegen_die_Cholera.html (Datum des Seitenbesuchs)

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