Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ruth Leiserowitz

 

Russlands imperiale Macht. Integrationsstrategien und ihre Reichweite in transnationaler Perspektive. Hrsg. von Bianka Pietrow-Ennker. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 400 S., 2 Ktn., Abb. ISBN: 978-3-412-20949-0.

Inhaltsverzeichnis:

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Der vorliegende Band, entstanden im Kontext des Konstanzer Exzellenzclusters Kulturelle Grundlagen von Integration, versteht sich, wie seine Herausgeberin es in der Einleitung formuliert, „als ein auf Osteuropa bezogener geschichtswissenschaftlicher Beitrag zum Problemfeld von Integration“. Zusätzlich sollen Fragen von „transkulturellen Hierarchien“ beleuchtet werden, wobei davon ausgegangen wird, dass Hierarchie eine kulturelle Form von Integration darstellt. In der Darstellung werden hauptsächlich trans- und interkulturelle Übertragungen von Sichtweisen und Denkmustern untersucht, wobei der räumliche Schwerpunkt auf das russländische Imperium, die Sowjetunion und die Russländische Föderation gesetzt wird. Ein wichtiger Fokus liegt dabei ebenfalls auf den Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie im imperialen Raum. In der Analyse spielen die Kategorien Raum und Zeit eine maßgebliche Rolle sowie außerdem Konzepte der Macht. Die meisten der Autorinnen und Autoren beziehen sich in ihren Analysen auf Thesen von Michel Focault, wobei Macht in Beziehungen und Aktionen gedacht wird und somit diese Interaktionen und Kommunikationen unter die Lupe genommen werden. Im Einzelnen gliedert sich der Band in vier große Kapitel. Im ersten Abschnitt Hegemoniale Konzeptbildungen wird vorgeführt, wie sich auf der Basis spezieller Transferleistungen kulturell Codes herausbildeten. Hier analysiert Ricarda Vulpius die historische Semantik des 18. Jahrhunderts und weist nach, seit welchem Zeitpunkt sich imperiales Denken im russländischen Raum durch den Gebrauch von bestimmten Termini feststellen lässt. Sie untersucht u. a. das Begriffsfeld von Zivilisation/Zivilisiertheit im Russland des 18. Jahrhunderts und resümiert, dass sich „die russländische imperiale Elite […] als Teil einer universellen Zivilisation sah“ (S. 53). Damit liefert sie wichtige Einblicke in die russische Begriffsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Nikolaus Katzer untersucht das sowjetische Konzept der Körperkultur und des Sportes, das wichtige Funktionen in „Selbstverständnis und Erscheinungsbild des Sowjetsystems“ (S. 85) nach innen und außen erfüllte. Katzer zeigt auf, wie die Körperkultur in den zwanziger Jahren allmählich in die Alltagskultur eindrang. Doch als das sowjetische Leben in den Status der Normalität getreten sei, habe sich allmählich eine Kluft zwischen der kollektiven Zuschreibung und dem Alltag aufgetan. Der Breitensport ließ nach und wurde materiell nicht ausreichend gefördert. Spitzensport hingegen war eine wichtige Disziplin im Kalten Krieg. Katzer weist nach, dass die Sportpolitik auch „auf ethnische Homogenisierung und die Schaffung eines ‚Sowjetvolkes‘ abzielte (S. 101). Der 2. Abschnitt Repräsentationsformen von imperialer Macht, untersucht an vier Beispielen Symbolpolitik und die mit ihr verflochtenen Machtstrategien. Er beginnt mit dem Beitrag von Malte Rolf über die Zarischen Beamten und die urbane Öffentlichkeit in Warschau (1870–1914), der hier nicht besprochen wird, da die gesamte Untersuchung inzwischen vorliegt, in Kürze auch auf Polnisch erscheinen wird und bereits besprochen wurde. Von den anderen Beiträgen soll hier die Untersuchung von Elena Zubkova und Sergej Zubkov über die Konstruktion eines neuen Bildes von der Sowjetunion und Nikita Chruščev für den Westen erwähnt werden. Chruščev habe nach dem Tod Stalins außenpolitische Aktivitäten initiiert, deren „zentrales Element die Herstellung eines positiven Bildes des sowjetischen Führers im Westen“ (S. 210) gewesen sei. Die Verfasser zeigen, dass der Sowjetpolitiker mit damals modernen Vermarktungsstrategien, vor allem mit Pressekonferenzen, Einladungen an Journalisten u.ä., es geschafft hat, ein positives Bild eines sowjetischen Politikers zu schaffen, wobei er auch auf symbolische Handlungen abhob, indem er bei Staatsbesuchen ohne Orden am Anzug auftrat oder sich im offenen Wagen durch die Menge chauffieren ließ. So sei das Gesicht von Chruščev international das Gesicht der sowjetischen Außenpolitik geworden. Im 3. Abschnitt, das mit Trans- und Internationalität diskursiver Machtstrategien betitelt ist, werden Varianzen bei der Konstruktion sowjetischer Hierarchien aufgezeigt. Auch hier sei nur ein Beitrag herausgegriffen: die Untersuchung von Isabelle de Keghel zu den bildlichen Darstellungen der DDR in der großen sowjetischen Illustrierten Ogonek im Zeitraum von 1949 bis 1964. Die Autorin fragt, welchen Charakter diese visuellen Repräsentationen ostdeutsch-sowjetischer Beziehungen aufwiesen, und unterstreicht, dass die Berichte durchaus erhebliche Relevanz besaßen, da die meisten Sowjetbürgerinnen- und Sowjetbürger keine Möglichkeit hatten, das Land selbst zu bereisen, und es also nur vom „Hören-Sagen“ kannten (S. 286). De Keghel macht deutlich, wie „visuelle Repräsentationen dazu genutzt [wurden], die zunehmende Integration der DDR in den sowjetischen Hegemonialraum […] medial zu kommunizieren“ (S. 303). Darüber hinaus untersucht die Verfasserin insbesondere die Schlüsseljahre 1955, 1963 und 1964 und kann resümieren, dass die DDR trotz der ungleichen Beziehungen damals eine Aufwertung erfuhr. Im 4., abschließenden Abschnitt Widerständigkeiten und Gegenentwürfe als Formen von Desintegration schildert Robert Brier außenpolitische Aktivitäten von polnischen Oppositionellen in den achtziger Jahren. Er stellt fest, dass diese es durchaus vermochten, durch ihre internationalen Kontakte ein Gegengewicht zur heimischen Regierung zu etablieren, wobei gleichzeitig die Solidarność ein „umkämpftes Symbol innerwestlicher Konflikte“ wurde (S. 370). Briers Untersuchung ist Teil einer Monographie, die in Kürze mit Spannung erwartet werden darf. Alvydas Nikžentaitis schließlich widmet sich der Rolle von in der Zwischenkriegszeit konzipierten Gedächtniskulturen. Da heute das Konzept von „der Rückkehr in die Normalität“ herrsche, werde die kommunistische Herrschaftsphase als unnormale Zeit betrachtet. Demzufolge erlebt die Erinnerung an die Zwischenkriegszeit Konjunktur und stärkt jeweilige nationale Identitäten. Elemente daraus speisen auch die Außenpolitik der verschiedenen postkommunistischen Staaten, die immer wieder auf Momente der Beziehungen der Zwischenkriegszeit zurückgreife. Nikžentaitis exemplifiziert hier das Problem an den polnisch-litauischen Beziehungen, erwähnt aber nicht, dass in diesen zahlreiche überholte und anachronistische Momente anklingen, die emotional durchaus funktionieren, aber im 21. Jahrhundert eigentlich ihre Funktion verloren haben sollten. Resümierend könnte man sagen, dass viele nationale Gegenentwürfe als Formen von Desintegration dringend einer Sichtung, Überarbeitung und Neubewertung bedürfen, da wir uns sonst weiter mit dem nationalen Ballast der Vorstellungen vom Ende des 19. Jahrhunderts herumschlagen. Die Zusammenstellung der Texte ist trotz ihrer großen Heterogenität durchaus gelungen und liefert genügend Stoff, um imperiale Kontinuitäten und Diskontinuitäten auch über die eigentlichen Staatsgrenzen hinaus zu begreifen. Insgesamt kann der Band das Versprechen einlösen, der kulturgeschichtlichen Imperienforschung mit dem Fokus auf den russisch-russländisch-sowjetischen Raum neue Impulse zu liefern.

Ruth Leiserowitz, Warschau

Zitierweise: Ruth Leiserowitz über: Russlands imperiale Macht. Integrationsstrategien und ihre Reichweite in transnationaler Perspektive. Hrsg. von Bianka Pietrow-Ennker. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2012. 400 S., 2 Ktn., Abb. ISBN: 978-3-412-20949-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Leiserowitz_Pietrow-Ennker_Russlands_imperiale_Macht.html (Datum des Seitenbesuchs)

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