Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ruth Leiserowitz

 

Mobilität und regionale Vernetzung zwischen Oder und Memel. Eine europäische Landschaft neu zusammensetzen. Hrsg. von Olga Kurilo. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2011. 225 S., 39 Abb. = Trialog. ISBN: 978-3-8305-1891-4.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1014352274/04

 

Der zu besprechende Band ist die erste Publikation eines wissenschaftlichen Kooperationsprojekts, das unter dem Titel Trialog firmiert, den historischen Raum zwischen Oder und Memel umfassen soll und gemeinsam von der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), der Nikolaus-Kopernikus-Universität Toruń und der Baltischen Föderalen Kant-Universität Kaliningrad getragen wird. Ziel des Projektes, das im November 2010 mit einer Konferenz an der Viadrina eröffnet wurde, ist es zum einen, Kooperationen zwischen den beteiligten Universitäten im geisteswissenschaftlichen Bereich zu initiieren und auszubauen. Zum anderen sollen grenzüberschreitende Vernetzungen geknüpft werden, um insgesamt zur deutsch-polnisch-russischen Verständigung beizutragen. Dieses soll mittels Sommerschulen, wissenschaftlicher Konferenzen sowie gemeinsamer Konferenzbände erfolgen. Der erste Band vereint 14 Texte unter den Stichworten Mobilität und Wirtschaft, Kommunikation und Wirtschaft, Tourismus als internationales Phänomen sowie Architektur und Kulturerbe. In der Einleitung verweist die Herausgeberin Olga Kurilo darauf, dass nicht alle Konferenzbeiträge veröffentlicht wurden. Es gab Bemühungen, eine inhaltliche Stringenz herzustellen, obwohl diese sich nur teilweise herauslesen lässt. Jurij Kostjašovs Beitrag über Ostpreußen als Brücke zwischen Russland und Westeuropa: Die ökonomische Zusammenarbeit und ihr Scheitern während der Weimarer Republik liefert zahlreiche neue Erkenntnisse zum Stellenwert Ostpreußens aus sowjetischer Sicht. Kostjašov schildert u.a. einen Besuch einer ostpreußischen Delegation unter der Leitung des Oberpräsidenten der Provinz im Jahr 1929 in der UdSSR und weist daran nach, das die Interessen und Ziele der Zusammenarbeit auf beiden Seiten völlig differierten, was auch an den sehr unterschiedlichen Wirtschaftssystemen lag. Jan Musekamp liefert einen kleinen Einblick in sein inzwischen wesentlich fortgeschrittenes und vertieftes Forschungsprojekt über die Königlich Preußische Ostbahn, die er alsRückgrat des europäischen Ost-West-Verkehrsbezeichnet und alswichtiges Verbindungsglied zwischen den europäischen Imperien und ihren Bewohnernsieht. Unter der Überschrift Kommunikation und Vernetzung steht als erstes Roman Czajas Beitrag über die Modi der Kommunikation im preußischen Ordensland in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in dem der Autor nachweist, dass der Schriftverkehr „der Großstädte [kann man um diese Zeit schon von solchen sprechen? – R.L.) mit der Region und mit dem Landin jener Zeit zunahm. Darauf folgt ein politikgeschichtlicher Text von Roman Bäcker, der sich mit der Kommunikation im totalitären System befasst und überzeugend darlegt, dass das Funktionieren des Monopols auf soziale Kommunikation von der institutionellen Unterordnung aller Massenmedien, der Existenz effektiver Blockademöglichkeiten und stets geübter Aufsicht abhängig war, es aber natürlich auch zu Ausbildungen informeller Kommunikationsformen kam. Der dritte Text in dieser Abteilung beschäftigt sich mit dem unterschiedlichen Champagnerkonsum um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert in Frankfurt/Oder, Thorn und Königsberg. Die Kulturhistorikerin Dorota Lewan­dow­ska resümiert, dass man in den Städten des Nordens einen anderen Geschmack hatte als in London oder Paris, woraus sie schlussfolgert, dass sich in diesen nördlichen Städten wohleine Art Gemeinschaft in der Kultur des Geschmacks [herausgebildet]habe.

Das Kapitel Architektur und Kulturerbe enthält einen Text von Paul Zalewski über die Thorner Altstadt als Zeugnis überregionaler Kulturbeziehungen, indem er überzeugend und gut bebildert die für mittelalterliche Maßstäbe erstaunliche überregionale Reichweite an ausländischen Bauleuten und den in der Stadt aufzufindenden Stil­pluralismus nachweist, Faktoren, die seines Erachtens eine künstlerische Wettbewerbssituation abbildeten, die auf eine wirtschaftliche Blütezeit und politische Anspannung zurückgeführt werden kann. Irina Belinceva hat erste Eindrücke von russischen Reisenden aus dem 18. Jahrhundert zusammengestellt, die Königsberg und Danzig besuchten. Sie schlussfolgert, dass deren erste Bekanntschaft mit der europäischen Methode des räumlichen Architekturdenkens zu neuen ästhetischen Ansichten in der russischen Architektur beigetragen hätten. Somit seien sie Bestandteil der Europäisierung Russlands im 18. Jahrhundert gewesen. Wiesław Sieradzań beschreibt das Nachkriegsschicksal der Bibliothek des Marienburger Denkmalpflegers Bernhard Schmid, deren Großteil sich heute in der Bibliothek des Instituts für Geschichte und Archivkunde der Nikolaus-Kopernikus-Universität Toruń befindet. Dazu zählen nicht nur Bücher über konservatorische Fragen, sondern auch viele Geschichtswerke und schöngeistige Literatur, die das breitgefächerte Interesse Schmids widerspiegeln. Dieser einzigartige Bestand bildet heute eine Grundlage für vielfältige polnische Forschungen.

In einem weiteren Kapitel Tourismus als internationales Phänomen beschreibt Olga Kurilo die Entwicklung des Tourismus in Ost- und Westpreußen für das 19. und 20. Jahrhundert am Beispiel der Seebäder, wobei sie vor allem Zoppot und Cranz in Augenschein nimmt und unterstreicht, dass diese vor dem Ersten Weltkrieg sehr attraktiv für Besucher aus Russland gewesen seien. Daran schließen sich Schilderungen von Vitalij Malsov über die Besonderheiten touristischer Reisen Kaliningrader Jugendlicher in europäische Länder zur Sowjetzeit an. Die Kaliningrader Spezifik beruht einzig darauf, dass das Quellen- und Zahlenmaterial aus Beständen des Kaliningrader Archivs stammt. Dargestellt wird ein allgemeines sowjetisches Phänomen. Auslandsreisen, selbst in sozialistische Nachbarländer, galten als Privileg und wurden stark reglementiert. Um ein umfassendes Bild über Reiseregelungen und Durchführungen zu erzielen, müssten noch Quellen hinzugezogen werden, die Informationen über die Organisation von Gruppenreisen und die Auflagen für die Durchführung an die entsprechenden Partnereinrichtungen im Ausland liefern. Abgerundet wird dieses Kapitel mit einem Beitrag aus der Anthropologie des Tourismus, in dem Żaneta Kopczyńska nachzuweisen versucht, dass Reisen nicht nur physische Bewegung ist, sondern dass es dabei häufig um Suche nach der Kindheit,nach Ruhe, Ordnung und Harmoniegeht und dass ein Tourist, der dieSommerferien auf [] einem Bauernhof verbringt oder an Veranstaltungen und regionalen Volksfesten teilnimmt“, in der Zeit reist. Sie resümiert, dassdie Sehnsucht nach dem locus amoenus, dem Ort, der ein glückliches Leben möglich macht und der sich eben auf dem Lande befinden soll, [] eingeschrieben in die europäische Identität [ist].

Ob dieser Band einen glücklichen Leser hinterlässt, ist sehr fraglich. Zweifelsohne sind Kooperationen, und gerade über Ländergrenzen hinweg, wichtig und notwendig. Natürlich ist es ungemein wichtig, wie Karl Schlögel in seiner in dem Band gleichfalls abgedruckten Rede zur Eröffnung des Trialogs skizzierte,eine europäische Landschaft neu zusammenzusetzenund denReichtum der RegionimZusammenspiel der Disziplinenzu erschließen. Während der Lektüre der überaus heterogenen Beiträge scheint einem aber eher, die Konferenz sei eine Leistungsschau dessen gewesen, was jeder Kooperationspartner zum gemeinsamen Thema beizutragen habe, aber das Gespräch über die Inhalte, die Auseinandersetzung zu verschiedenen Ansichten und Standpunkten, das gemeinsame Verfolgen von Forschungsfragen lässt sich nicht erkennen. Abbildungen von geführter Rede und Gegenrede, eben Trialoge, auch in der Form von vertiefter Nacharbeit von Vortragstexten, würden zu deutlichem Erkenntnisgewinn beitragen.

Ruth Leiserowitz, Warschau

Zitierweise: Ruth Leiserowitz über: Mobilität und regionale Vernetzung zwischen Oder und Memel. Eine europäische Landschaft neu zusammensetzen. Hrsg. von Olga Kurilo. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2011. 225 S., 39 Abb. = Trialog. ISBN: 978-3-8305-1891-4, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Leiserowitz_Kurilo_Mobilitaet_und_regionale_Vernetzung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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