Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ruth Leiserowitz

 

Anna Holian: Between National Socialism and Soviet Communism. Displaced Persons in Postwar Germany. Ann Arbor, MI: University of Michigan Press, 2011. XI, 367 S., 12 Abb. = Social history, popular culture, and politics in Germany. ISBN: 978-0-472-11780-2.

Als der Krieg im Mai 1945 endete, befanden sich über acht Millionen displaced persons (sogenannte DPs) in Deutschland. Diese große Gruppe umfasste ausländische Arbeitskräfte, die nach Deutschland verschleppt worden waren, befreite KZ-Insassen und Kriegsgefangene aus zahlreichen Staaten. Unter ihnen waren aber auch zahlreiche Osteuropäer, die vor der heranrückenden Roten Armee geflohen waren. Längst nicht alle wollten umgehend nach Hause zurückkehren. Rasch stellte sich heraus, dass viele osteuropäische DPs überhaupt nicht in ein Heimatland zurückkehren wollten, das von den sowjetischen Kommunisten besetzt worden war. Zu diesen Gruppen hinzu kamen osteuropäische Juden, die nach Kriegsende aus der Sowjetunion nach Polen repatriiert worden waren, aber sich in Folge des Pogroms von Kielce entschlossen, den Schutz der Alliierten in Deutschland zu suchen. Die Autorin beschreibt nun in diesem ihrem ersten Buch, wie sich osteuropäische Flüchtlinge gleich nach dem Zweiten Weltkrieg im Nachkriegsdeutschland definierten und präsentierten. Sie untersucht dafür Schicksale von polnischen, ukrainischen, russischen und jüdischen Flüchtlingen und analysiert deren kulturelle und politische Vorstellungen, mit denen sie Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre lebten. Holian hat sich zum Ziel gesetzt, die Entwicklung der Flüchtlingsgemeinden aufzuzeigen und deren stark unterschiedliche Interpretationen des erlebten Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus darzustellen. Dafür hat sie sich enge regionale und zeitliche Grenzen gesteckt, sie fokussiert sich räumlich auf Bayern und zeitlich auf die Jahre 1945–1951. Bayern als amerikanisch besetzte Zone war im Gegensatz zu der britischen und französischen Zone die Region, in der die DPs die höchste Aufmerksamkeit und größte Zuwendung erfuhren. Das so von der Autorin gezeichnete Bild ist dadurch regional und zeitlich sehr spezifisch geraten. Nirgendwo in Westdeutschland außer im amerikanischen Sektor von Berlin und in Bayern gab es Lager für jüdische DPs, und viele Flüchtlingsschicksale waren auch 1951 lange nicht entschieden oder abgeschlossen.

Im Eingangskapitel wendet sich die Historikerin derErfindung der displaced personszu. Dabei beschreibt sie vor allem, wie die deutschen Behörden vor Ort mit dieser plötzlichen Erscheinung verfuhren, wie sie orientierungs- und perspektivlos damit umgingen und inwiefern internationale, darunter die UNRRA und die IRO, aber vor allem US-amerikanische Institutionen das Problem handhabten.

Holian legt eine quellengesättigte Studie vor, in der sie zahlreiche Dokumente aus US-amerikanischen und bayerischen Archiven, darunter auch solche aus der UNRRA-Universität und der Ukrainischen Universität (München), zitiert. Sie eröffnet den Zugang zu den Organisationsformen der DPs sowie den zahlreichen Debatten innerhalb der jeweiligen Gruppen, die zum großen Teil auch in lokalen Veröffentlichungen geführt wurden und in hohem Maße unbekannt sind. Dabei handelt es sich nicht nur um politische, sondern auch um literarische Texte, wie z.B. die des bekannten Tadeusz Borowski. Darin liegt ein großes Verdienst dieser Arbeit, dass sie den Leserinnen und Lesern bisher verschlossene Zugänge zu den Vorstellungen und Vorhaben der polnischen, ukrainischen und russischen DP-Gruppen eröffnet. Ein Großteil der Geschichte der Juden in den DP-Camps ist hingegen schon relativ bekannt.

Leider wird die sowjetische Repatriierungspolitik sehr kurz abgehandelt und Holian bezieht sich dabei im Wesentlichen auf die Übereinkunft der Alliierten in Jalta (S. 38). Dabei war für die Rückkehr der sowjetischen DPs auch das Repatriierungsabkommen von Halle aus dem Jahr 1945 entscheidend. Nur auf der Grundlage dieses Vertrages kam es zu der hohen Rückkehrerzahl von drei Millionen Sowjetbürgern noch im selben Jahr. Die amerikanischen Streitkräfte hatten zur Realisierung des Vorhabens eine Luftbrücke angeboten, die von den sowjetischen Offizieren vermutlich aus Angst vor möglicher Spionage abgelehnt wurde. Stattdessen mussten die meisten während des Sommers in großen Kolonnen bis zur sowjetischen Grenze zu Fuß zurückkehren. Schnell erfuhren auch die DPs von Zurückgekehrten, dass ihre Rückkehr mit großen Problemen verbunden war, denn an der Grenze zur UdSSR mussten alle Heimkehrer aus dem Ausland einen zeitlich nicht terminierten Aufenthalt in einem Filtrationslager verbringen, während dessen sie vom NKWD gründlich befragt wurden und ideologische Schulungen über sich ergehen lassen mussten. Häufig wurden sie anschließend als politisch verdächtig eingestuft und in ein Arbeitslager eingewiesen. Diese sowjetische Vorgehensweise war der Hauptgrund, warum der Rückkehrwille der sowjetischen Bürger so rapide abebbte.

Holian macht Unterschiede fest, warum die DPs nicht zurückkehren wollten. Allerdings gab es auch einen numerisch nicht definierten Anteil von DPs, die als Kollaborateure der Deutschen vor Kriegsende aus ihrem Heimatland geflohen waren. Dieses Motiv wird allerdings von der Autorin nicht thematisiert. Es lässt sich auch aus dem Quellenmaterial des sehr begrenzten Forschungszeitraums nicht ersehen. (Mehrere der seit 1990 Jahren wegen Judenmords angeklagten früheren Osteuropäer, wie auch der kürzlich verhaftete ehemalige SS-Mann Hans Lipschis aus Kretinga, hatten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in einem deutschen DP-Camp aufgehalten und sich dort eine neue Identität verfertigt.) Die Mehrzahl der Juden, die sich in den bayerischen Lagern aufhielten, war aber, anders als die Gruppe der nichtjüdischen DPs, nicht seit Kriegsende in Deutschland, sondern kam erst später aus Polen. Das belegen auch Zahlen. Gab es 1945 40.000 jüdische DPs in der amerikanischen Besatzungszone, wuchs deren Zahl bis 1947 auf 150.000. So muss man feststellen, dass es sich hier um Flüchtlinge handelte, die sich die Strukturen der DP-Camps zu eigen machten und häufig schon mit dem klaren Ziel kam, nach Palästina zu gehen.

Die deutschen Behörden sahen die DPs als eine große Belastung an, die sie nicht finanzieren wollten, weswegen sie die gesamte Verantwortung auf die Alliierten abschoben (S. 264). Hinzu kam auch das mentale Problem, dass es aus der nationalsozialistischen Ära reichlich genährte Stereotype über Juden, Ukrainer und Polen gab, die fest in den Köpfen der Deutschen verhaftet waren und das Denken und Handeln bestimmten.

Schließlich resümiert Holian, dass die politischen Identitäten der DPs, die sich in der Lagerzeit entwickelten, auch in der Zeit danach Kontinuität aufwiesen, und gibt als Beispiel die polnischen und ukrainischen Gruppen an, die anschließend in die USA bzw. nach Kanada emigrierten (S. 269–270). Ferner stellt sie fest, dass sich die displaced persons nicht als Subjekte der deutschen Geschichte sahen und auch die meisten Deutschen sie nicht so sahen. Trotzdem hätten sie zur Gestaltung Nachkriegsdeutschlands beigetragen. Die Geschichte der DPs in Deutschland weise eine wichtige Perspektive der Nachkriegszeit auf und illustriere, wie sich die Wege der Deutschen und der Osteuropäerin den Ruinen des Reiches gekreuzthätten. Diesem Resümee kann zugestimmt werden. Gleichzeitig wird hier deutlich, dass zahlreiche Forschungslücken noch zu schließen sind. Auch gilt es, stärker in der langen Perspektive zu schauen und weitere Gruppen der DPs, wie die der Balten, ebenfalls zu untersuchen. Dann ließe sich beispielsweise resümieren, dass das Buch von Tadeusz BorowskiBei uns in Auschwitzdoch kein Flop war und wichtige baltische Politiker seit 1990, wie der litauische Altpräsident Valdas Adamkus und die lettische Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga ihre grundlegende politische Erziehung in ihrer Jugend in DP-Camps in Deutschland erhalten haben.

Ruth Leiserowitz, Warschau

Zitierweise: Ruth Leiserowitz über: Anna Holian: Between National Socialism and Soviet Communism. Displaced Persons in Postwar Germany. Ann Arbor, MI: University of Michigan Press, 2011. XI, 367 S., 12 Abb. = Social history, popular culture, and politics in Germany. ISBN: 978-0-472-11780-2, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Leiserowitz_Holian_Between_National_Socialism_and_Soviet_Communism.html (Datum des Seitenbesuchs)

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