Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ruth Leiserowitz

 

The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848–1918. Ed. by Mitchell G. Ash / Jan Surman. Houndmills, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan Press, 2012. XI, 258 S., 6 Abb., 3 Tab. ISBN: 978-0-230-28987-1.

Inhaltsverzeichnis:

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Kurz nachdem der Kulturtransfer in der historischen Forschung zum Thema wurde, geriet auch der Wissens- und Wissenschaftstransfer in den Fokus. Für die einen stellt sich seither die Frage, was man unter Wissens- oder Wissenschaftstransfer generell verstehen soll, für die anderen liegt in der Diversität der Transfermöglichkeiten den Hauptansatzpunkt der Fragestellung. Der hier zu besprechende Band hat seinen zeitlichen Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, d.h. in einer Zeit, als einerseits nationale Identitätsvorstellungen in großem Maße zunahmen und andererseits vielfache transnationale Verflechtungen, begünstigt durch eine rasch wachsende Mobilität, entstanden. Gerade innerhalb der verschiedenen Imperien mit ihren multikulturellen Profilen entstanden dadurch neue Spannungsverhältnisse im Bereich der Wissenschaft, die aber stark durch nationale und politische Momente beeinflusst wurden. Diese wurden bisher für die Habsburgermonarchie noch nicht umfassend untersucht. Mitchell Ash und Jan Surman haben sich nun die Aufgabe gestellt, nach dem Verhältnis zwischen der vermeintlich universellen wissenschaftlichen Forschung und den Besonderheiten nationalpolitischer Wissenschaftsstrategien zu fragen.

Der hier zu besprechende Band enthält neben der Einleitung neun Kapitel, die sich mit dem Verhältnis von Internationalität und Nationalsprachen (Jan Surman) befassen, mit der Rolle der Nationalpolitik in der österreichischen Wissenschaft (Johannes Feichtinger) sowie dem strukturellen Konsens zwischen politischer Administration und wissenschaftlichen Aktivitäten am Beispiel der Geologischen Reichsanstalt (Marianne Klemm). Weiter werden Paradigmen des wissenschaftlichen Nationalismus in Ungarn behandelt (Gábor Palló),ein Beispiels wissenschaftlicher Erziehung anhand einer ungarischen Familie aufgezeigt (Tibor Frank) und die Positionen von tschechischen Chemikern in der Zeit des nationalen Erwachens beleuchtet (Sona Strbánová). Schließlich folgen ein Exkurs zur Seismologie (Deborah R . Coen), eine Darstellung der öffentlichen Debatte über Eugenik in Ungarn (Marius Turda) und eine Analyse der politischen Umstände, unter denen um die Jahrhundertwende Anatomie betreiben wurde (Tatjana Buklijas). Ein breitgefasstes Spektrum wissenschaftlicher Fachdisziplinen in einem weiten geografischen Raum eröffnet sich hier, deren Gemeinsamkeiten einerseits durch die imperiale Struktur des Habsburgerreiches bestimmt wurden und darüber hinaus auch durch die gemeinsame Wissenssprache Deutsch. Noch existierte die sprachliche Gemeinsamkeit, wenn sie auch langsam durch nationale Aspirationen und nationale Politik am Auseinanderdriften war, wie die Herausgeber treffend in ihrer Einleitung anmerken (S. 1).

Surmann resümiert, dass in diesem Zeitraum einerseits die Herausbildung und der Gebrauch von wissenschaftlichem Vokabular in den einzelnen Sprachen beobachtet werden kann, andererseits aber auch Wissenschaft ein internationaler Kulturprozess wurde, in dem die Wissenschaftler die nationalen Gemeinschaften repräsentierten, in die sie selbst eingeschrieben waren. Aber, so stellt Surmann weiter fest, in demintendierten kulturellen Pfadwarinternationalnur eine Erweiterung desNationalen. Diese These wird in einigen Beiträgen untermauert, in anderen dagegen sehen Autoren eher andere Tendenzen. Marianne Klemun schildert in der Arbeitssphäre der Habsburgischen Geologen eher Aushandlungsprozesse, die in einer praktischen Kultur des Konsenses verankert waren (S. 97). Tibor Frank beschäftigt sich mit dem neuen Ansatz, über die Perspektive von Wissenschaftlerfamilien nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit zu fragen. Sein Resümee für die Mathematikerfamilie Eötvös lautet, dass deren Angehörige keine Dualität oder Opposition zwischen der universellen und der nationalen Wissenschaftsszene sahen (S. 131). Die Familienmitglieder stellten ein dauerhaftes Beispiel dafür dar, wie Teile der Elite ihre internationale Erfahrung und ihr einzigartiges Wissen nutzten, um das kulturelle Niveau und den Bildungsstand in einem bis dahin unterentwickelten Land in der Mitte Europas zu heben. Diese Tatsache wird ebenfalls durch Schlussfolgerungen von Gábor Palló untermauert, der hervorhebt, dass die Ungarische Akademie der Wissenschaften auf Initiative von Loránd Eötvös ein wissenschaftliches Journal, die Mathematischen und Naturwissenschaftlichen Berichte aus Ungarn herausgab. Palló unterstreicht, dass es sich hier um ein nationales Periodikum handelte, das aber zur internationalen Wissenschaft beitragen wollte (S. 110).

Einige Beiträge, darunter auch der von Buklijas, fokussieren stärker Persönlichkeiten des wissenschaftlichen Lebens und deren nationales sowie internationales Engagement. Bereits im 19. Jahrhundert wurden Vertreter der Wissenschaft in verschiedenen Ländern aufgefordert, sich für jeweilige nationale Interessen stark zu machen, denn sie wurden als effiziente Ressourcen für die jeweiligen Autonomiebestrebungen gesehen. Andere Autoren heben stärker auf die Entwicklung neuer Wissenschaftszweige und deren nationalpolitische Nutzbarmachung ab.

Soňa Strbáňová vermag in ihrem Text beide Aspekte hervorragend zu verbinden. Sie stellt fest, dass nach 1860 der Patriotismus in den böhmischen Ländern in den Wissenschaften in Nationalismus und Chauvinismus mündete und sich streng von der deutschen Wissenschaftsszene abgrenzte. Diese Tendenzen wurden besonders nach 1890 mit der Gründung der Tschechischen Akademie sichtbar, innerhalb derer sehr stark für den Gebrauch des Tschechischen plädiert wurde (S. 130). Sie kommt zu dem Schluss, dass speziell Chemiker innerhalb der naturwissenschaftlichen Szene in Tschechien eine zentrale Position einnahmen, was u.a. auf die rasante Entwicklung der chemischen und Düngemittelindustrie zurückzuführen war und im Übrigen, so lässt sich hinzufügen, ein gesamt-ostmitteleuropäisches Phänomen jener Zeit darstellte. Darüber hinaus spielte auch eine wesentliche Rolle, dass alle führenden Chemiker in Deutschland studiert hatten und die Mehrzahl von ihnen international gut vernetzt war.

Marius Turda untersucht die Entwicklung der Eugenik in Ungarn und resümiert, dass die Wechselwirkungen von wissenschaftlichen Ideen und Konzepten des sozialen Wandels Anfang des 20. Jahrhunderts von Persönlichkeiten propagiert wurden, die alle an der Verbesserung der rassischen Gesundheit der ungarischen Nation interessiert waren. Die Anhänger der Eugenik in Ungarn glaubten daran, dass das Ideal der regenerativen Biologie die nationalen Werte positiv beeinflussen würde. Die öffentlichen Debatten stützten sich auf drei Pfeiler: die Rolle der Vererbung, Verknüpfungen zwischen Biologie, Medizin und Volksgesundheit und die Verbindung zwischen Wissenschaft und politischer Macht. Turda verweist darauf, dass es nun gelte, Erkenntnisse über andere zeitgleiche eugenische Bewegungen in Ostmitteleuropa zu gewinnen, um eine Geschichte der europäischen Eugenik schreiben zu können.

Die Ambivalenz zwischen den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unternommenen Bemühungen, nationale Identitäten zu etablieren und sich gleichermaßen in der transnationalen Wissenschaftskultur zu positionieren, diese vielfachen Wechselwirkungen zwischen nationaler Identität und transnationaler Verflechtung werden hier anhand des Querschnitts von Beiträgen aus verschiedenen Ländern überaus deutlich sichtbar.

Ruth Leiserowitz, Warschau

Zitierweise: Ruth Leiserowitz über: The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848–1918. Ed. by Mitchell G. Ash / Jan Surman. Houndmills, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan Press, 2012. XI, 258 S., 6 Abb., 3 Tab. ISBN: 978-0-230-28987-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Leiserowitz_Ash_The_Nationalization_of_Scientific_Knowledge.html (Datum des Seitenbesuchs)

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