Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Walter Leimgruber,

 

Karl Kaser: Household and Family in the Balkans. Two Decades of Historical Family Research at University of Graz. Ed. by Karl Kaser. Münster [usw.]: LIT, 2012. 625 S., Tab., Graph., Abb. = Studies on South East Europe, 13. ISBN: 978-3-643-50406-7.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1023702967/04

 

Einen gewichtigen Band gilt es anzuzeigen, nicht nur vom Umfang (625 Seiten) und vom Gewicht (1064 g), sondern auch vom Inhalt her. Household and Family in the Balkans bietet einen umfassenden Überblick über einen Forschungsschwerpunkt, der seit zwei Jahrzehnten besteht. 1993 startete das erste vom österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) finanzierte Projekt zu balkanischen Familien. Niemand ahnte damals, dass dies der Beginn war für eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten zur Familien- und Haushaltsstruktur Südosteuropas, die am Zentrum für Südosteuropäische Geschichte der Universität Graz (heute: Südosteuropäische Geschichte und Anthropologie) angesiedelt wurden. Im Vorwort wird die Geschichte dieser Forschungen samt Vorgeschichte von Initiant Karl Kaser skizziert, der von den Archivfunden mit Haushaltszählungen, vor allem aber dem Kontakt mit dem amerikanischen Kulturanthropologen Joel M. Halpern und dessen Sammlung zu Jugoslawien berichtet. Diese Begegnung gab den Ausschlag, dessen Archiv auszuwerten und als Basis für weitere Forschungen zu benutzen.

Es entstand ein Forschungszugang an der Schnittstelle von Geschichte und Anthropologie, qualitative und quantitative Zugänge kombinierten die Methoden beider Disziplinen. Grundproblem des Vorhabens war die Aufarbeitung des Entstehens, Funktionierens und der Entwicklung der balkanischen Familienmuster mit ihren patriarchalen Strukturen. Die Zadruga wurde lange Zeit als der südslawische Typ eines komplex strukturierten Mehrfamilienhaushaltes gesehen, manchmal auch als traditionelle soziale Institution der Serben und/oder Kroaten – je nach politischer Situation und nationalem Konzept. Im 19. Jahrhundert entstand die Ansicht, es gebe eine homogene südslawische Bevölkerung mit spezifischen Eigenheiten wie etwa der Betonung der Gemeinschaft. Kaser und sein Team zeigen jedoch, dass die Familienstrukturen auf dem Balkan nicht auf ethnischen oder religiösen Zugehörigkeiten basieren. Im Laufe der Zeit vertrat die Gruppe verschiedene Hypothesen zur Entstehung und Entwicklung dieser Strukturen, die teilweise wieder verworfen wurden, was von einem stetigen Weiterentwickeln der Forschungsperspektiven auf der Basis immer umfangreicheren Materials zeugt.

Kaser schuf den Begriff der Balkanfamilie, die verbunden ist mit patrilinearen Abstammungsgruppen und dazugehörigen Eigenheiten wie Kollektivbesitz, männlichem Erbrecht, Ahnenkult und (an manchen Orten) Blutfehde. Die Forschung erfolgte zunächst in enger Zusammenarbeit mit Michael Mitterauer, welcher die Erkenntnisse zum westlichen (Vorherrschen der einfachen Kernfamilie) und östlichen Familientypus (Vorherrschen der komplexen Haushalte mit mehreren Familien), wie sie schon seit Hajnals Trennlinie von 1965 bekannt waren, vertiefte (Family Contexts: The Balkans in European Comparison).

Ein Vorwort, zwei Einleitungen und drei große Themenblöcke (Chapter I: Pre-Modern Family Contexts; Chapter II: Modernisation and the Interventionist State; Chapter III: Socialism and Post-Socialism) bilden die Struktur des Bandes. Insgesamt enthält dieser 28 Aufsätze von Mitarbeitenden des Projektes, die zwischen 1994 und 2011 erschienen sind. Die beiden Einleitungen von Karl Kaser, Joel M. Halpern und Richard A. Wagner aus den Jahren 1994 und 1996 beschreiben die Ziele des Projekts und präsentieren einige frühe Resultate. Kaser vertritt hier die These, dass das Familienmuster archaischer, genauer illyrischer Herkunft und seine Existenz eng mit der Weidewirtschaft verbunden sei.

Die Texte von Kaser, in allen Themenblöcken zu finden, umreißen die großen Linien des Vorhabens, bieten Überblicke über Regionen, zeitliche Entwicklungen oder einzelne Themen und fassen Erkenntnisse zusammen. Die Balkanfamilie, so die These im gleichnamigen Aufsatz, ist unabhängig von anderen östlichen Mehrfamilienhaushalten („Joint Families“) entstanden, es gibt keine allgemein slawische Übereinstimmung. Vlachen spielen nach Kaser eine zentrale Rolle, da ihr Familienmuster von anderen Gruppen übernommen wurde. Im Laufe des Projektes wird allerdings das Zusammenspiel von ökonomischen, ökologischen, demographischen, politischen und kulturellen Faktoren immer weiter differenziert. Kaser versucht den sich daraus ergebenden Variantenreichtum der Haushaltsstrukturen in mehreren Modellen zu gliedern (z.B. in Pastoral Economy and Family in the Dinaric and Pindus Mountains [14th – early 20th Centuries]).

Die weiteren Texte von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Projektes, von denen einige heute Lehrstühle innehaben, dehnen die Forschungen räumlich und zeitlich aus, vertiefen einzelne Aspekte und fügen neue Fragen hinzu. Hannes Grandits etwa beschreibt in Changing Family Contexts and Property Rights in the Second Half of the 19th Century: Some General Trends in the Habsburg Empire die Reformen nach 1848, die zu einem schnellen Wandel der Bauerngesellschaften führten und die feudale Ordnung durch ein modernes Staatskonzept ersetzten. Die sogenannte Grundentlastung bot den Bauern die Möglichkeit, das Land zu übernehmen und sich vom Grundherrn zu emanzipieren. Das demographische Wachstum, die zunehmenden Wanderungsbewegungen und die Proto­industrialisierung beeinflussten die Familien- und Erbformen, immer stärker griffen normierte Gesetzgebungen in tradierte Formen ein, beeinträchtigten die intergenerationelle Weitergabe von Besitz und damit die etablierten Normen der sozialen Organisation. Die Auswirkungen waren aber je nach lokalen Gegebenheiten, Form der Grundherrschaft und Erbregeln völlig unterschiedlich.

Ulf Brunnbauer zeigt in Families and Mountains in the Balkans. Christian and Muslim Household Structures in the Rhodopes, 19th – 20th Century, wie sehr es auf lokale und regionale Bezüge ankommt, wie gefährlich allgemeine Zuschreibungen etwa nach ethnischer Gruppe oder Religionszugehörigkeit sind. Siegfried Gruber und Robert Pichler beschäftigen sich mit den Household Structures in Albania in the Early 20th Century. Der Zensus von 1918 dient diesem wie auch weiteren Texten als wichtige Quelle. Auch hier sind je nach ökonomischer Strategie und geographischer Lage große Unterschiede festzustellen, allerdings mit einer generellen Tendenz, die Haushalte einige Jahre nach der Eheschließung zu teilen. Nur wenige Familien blieben über Generationen zusammen. Die Intensität der patriarchalischen Strukturen scheint dabei sehr variabel und von vielen Faktoren abhängig zu sein. In einem weiteren Text (Household Formation and Marriage: Different Patterns in Serbia and Albania?) vergleicht Gruber die serbischen und albanischen Haushalte am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Es gibt insgesamt mehr Hinweise auf unterschiedliche als auf gemeinsame Muster, obwohl die Gebiete eigentlich zum gleichen Typus gehören.

Brunnbauer skizziert in Descent or Territoriality: Inheritance and Family Forms in the Late Ottoman Empire and Early Post-Ottoman Balkans die Beziehungen von Sozialstrukturen, Erb- und Familienformen in dieser Zeit. Er wendet sich gegen die Idee eines linearen Fortschritts vom Osmanischen Reich zu den Nationalstaaten. Die gesellschaftlichen Prozesse am Ende der osmanischen Ära hatten ambivalente Folgen, die Erbpraktiken stellten einerseits Kontinuität her, hatten aber nachteilige Nebeneffekte im Rahmen des Nationalstaates und der privaten Besitzverhältnisse: Das Land wurde knapp durch Erbteilungen, die nicht mehr durch Allmenden ausgeglichen wurden, die fehlende Industrialisierung verhinderte eine Abwanderung der Bevölkerung und produzierte damit eine Überbevölkerung, die einen Ausweg nur in der Emigration sah.

Beispiele für die städtische Entwicklung bietet Gruber in Household Structures in Urban Albania in 1918. Bei vielen lokalen Unterschieden kann gesagt werden, dass komplexe Haushalte vor allem bei sozial höherem Status festzustellen sind. Sie waren offensichtlich prestigeträchtiger, aber im städtischen Umfeld auch schwieriger zu führen. In weiteren Texten von Gruber und von Gentiana Kera und Enriketa Pandelejmoni werden die Analyse urbaner Strukturen und des Zusammenspiels sozialer und räumlicher Faktoren verfeinert. Mehrere Aufsätze zu den Entwicklungen der Familiensysteme seit dem 19. Jahrhundert in verschiedenen Regionen zeigen einerseits den fundamentalen Wandel der Familienstrukturen, machen andererseits aber sichtbar, dass die kulturelle Werte der komplexen Haushalte auch nach deren Auflösung von Bedeutung blieben und weit ins 20. Jahrhundert wirkten. Neue Aspekte wurden wichtiger, etwa die Folgen der verschiedenen Migrationsformen (Pichler: Strategies of Migrant Workers in the Highland Villages of Southern Albania in the 19th and 20th Centuries) oder die Entstehung des Sozialstaates (Grandits: Kinship and the Welfare State in Croatia’s Twentieth-Century Transitions).

Chapter III Socialism and Post-Socialism wird von Ulf Brunnbauer, Anelia Kassavoba und Karin Taylor mit zwei Texten zur Familienpolitik der bulgarischen kommunistischen Partei eröffnet. Diese hatte meist nicht den erwünschten Effekt, auch wegen der Mängel der eigenen Wirtschaftspolitik, die dazu führte, dass man vieles akzeptieren musste, das man aus ideologischen Gründen eigentlich ablehnte. Pichler bietet in Migration, Ritual, and Ethnic Conflict. A Study of Wedding Ceremonies of Albanian Transmigrants from the Republic of Macedonia eine Fallstudie des Dorfes Velešta/Veleshte zum Verhältnis von Migration, nationalistischer Mobilisation und der Bedeutung von Ritualen für den sozialen Zusammenhalt. Nationalismus, aber auch die Imagination eines Heimatlandes kommt in diesen Ritualen, aber auch den Häuserbauten der Emigranten zum Ausdruck. Man stellt Lokalität her als Ausdruck eines Rückzugs voller primordialistischer Ideen und der Erwartung einer authentischen, geordneten, sicheren und verwurzelten Existenz. In einem zweiten Text vergleicht er die Hausbauten der hier lebenden Albaner und Makedonier. Beide Gruppen stärken damit die ethnischen Abgrenzungen, beide fürchten um ihre Heimat. Die Emigranten fördern die Vorstellung einer kohärenten und lokal verankerten Gemeinschaft, die Häuser dienen als idealisierte Modelle der zusammenlebenden Familie, stehen aber zugleich für die oft lebenslange Abwesenheit von zuhause.

Während des Krieges in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gewannen neo-patriarchale Rollenbilder als Konsequenz der Mystifizierung einer glorreichen nationalen Vergangenheit enormen Einfluss, widersprachen aber der Realität einer zunehmend globalisierten Gesellschaft, wie der Artikel von Grandits zu Gender Relations in Post-War Social Life: The Example of Multinational Herzegovina zeigt. Carolin Leutloff-Gran­dits, Danijela Birt, Tihana Rubić beleuchten in Two Croatian Localities die Verbindung von Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft und sozialer Sicherheit in der Phase des Übergangs von der sozialistischen zu postsozialistischen Ära.

Der Band bietet einen Überblick über ein Forschungsprogramm, das weniger auf Großtheorien als auf einer Mischung aus theoriegeleiteter Forschung, viel empirischer Kärrnerarbeit und Reflexion auf der Basis des Grounded Theory-Ansatzes basiert. Eine solche Sammlung enthält zwangsläufig Redundanzen; vor allem die Grundannahmen des Vorhabens werden mehrfach skizziert. Umgekehrt fehlen manchmal wichtige Hinweise. So nehmen mehrere Texte Bezug auf eine Arbeit von Kaser aus dem Jahr 1996, in welcher er vier Varianten balkanischer Familienstrukturen vorstellt. Dieser Text hätte vielleicht in die Sammlung aufgenommen werden müssen. Eine Einführung in die Grundbegriffe der Familienforschung wäre hilfreich gewesen, ebenso ein zusammenfassender Abschluss. Der zunehmende Einbezug qualitativer Daten gerade für die neuere Zeit wirkt als willkommener Ausgleich zu den vielen Zahlenreihen und Tabellen, welche die demographische Arbeit prägen.

Das Buch gestattet einen ausgezeichneten Einblick in die Entwicklung eines solchen Vorhabens, in den Umgang mit offenen Fragen und Unsicherheiten, das Erörtern von Alternativen und das Formulieren von Hypothesen. Es zeugt von einem hartnäckigen Bohren dicker Bretter, bei dem alle möglichen Werkzeuge originell und innovativ eingesetzt werden. Noch ist das Panorama jenseits des Brettes nicht vollständig freigelegt, versperren hartnäckige Hindernisse den einen oder anderen Teil des Horizonts. Und doch ist unser Bild der Familien- und Haushaltsstrukturen und der damit verbundenen vielfältigen Aspekte balkanischer Gesellschaften um ein Vielfaches reicher als vor 20 Jahren.

Walter Leimgruber, Basel

Zitierweise: Walter Leimgruber, über: Karl Kaser: Household and Family in the Balkans. Two Decades of Historical Family Research at University of Graz. Ed. by Karl Kaser. Münster [usw.]: LIT, 2012. 625 S., Tab., Graph., Abb. = Studies on South East Europe, 13. ISBN: 978-3-643-50406-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Leimgruber_Kaser_Household_and_Family.html (Datum des Seitenbesuchs)

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