Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stefan Lehr

 

Katherine Pickering Antonova: An Ordinary Marriage. The World of a Gentry Family in Provincial Russia. Oxford: Oxford University Press, 2013. XIX, 304 S., 11 Abb., 2 Ktn., 2 Graph. ISBN: 978-0-19-979699-1.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren 90 % der russischen Adligen nicht sonderlich wohlhabend, sie lebten auf dem Land und verwalteten ihre Güter selbst mit Hilfe Leibeigener. Über diesen Klein- und Mitteladel, seine Ansichten und Lebensweisen, wissen wir bisherbis auf Ausnahmenverhältnismäßig wenig. Die Mehrzahl der historischen Literatur zur russischen Nobilität befasst sich mit der zahlenmäßig kleinen Minderheit der Hocharistokratie (3,4 %), die in den Hauptstädten St. Petersburg und Moskau residierte und ihren umfangreichen Landbesitz durch Gutsverwalter betreuen ließ. Die für diese Adelsformation wesentlich bessere Quellenlage führte dazu, dass diese Minorität unser Bild vom russischen Adel weithin bestimmt.

Antonova legt nun mit dem hier besprochenen Buch eine Mikro- und Fallstudie zu einer mittelständigen russischen Adelsfamilie vor, den Čichačevs, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der russischen Provinz im Gouvernement Vladimir lebte. Sie untersucht deren Werte, Ideen und gesellschaftlichen Vorstellungen. Dabei geht sie auch auf die Familienstruktur und das Dorf ein, in dem die Čichačevs wohnten. Dank einem umfangreich überlieferten Familienarchiv gelingt ihr insbesondere für die dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts eine anschauliche Rekonstruktion des adligen Lebensalltags in der Provinz.

Die Verfasserin konzentriert sich auf das adelige Ehepaar Andrej (1798–1875) und Natalija Čichačev, geborene Černavina (1799–1866), die 1820 heirateten. Andrej Čichačev hatte seine schulische Unterweisung in einem privaten Adelspensionat in Moskau erhalten. Er schied bereits 1818 auf eigenen Wunsch in einem niedrigen Offiziersrang aus dem aktiven Militärdienst aus. Dagegen hatten beider Eheleute Väter den sechsten Rang des Obersten erreicht. 1825 wurde der Sohn Aleksej, 1829 die Tochter Aleksandra geboren. Die meiste Zeit lebten die Čichačevs in ihrem Dorf in Dorožaevo, das circa 120 Kilometer von der Gouvernementshauptstadt Vladimir entfernt liegt. Zeitweise hielten sie sich aber auch in Moskau auf, wo sie ein Haus besaßen und ihre Kinder ein Pensionat für Adelige besuchten. Dem Ehepaar gehörten zwischen 240 und 350 männliche Leibeigene, und 1820 hatten sie 30 erwachsene Hausdiener (dvorovye ljudi). Nur in zwei ihrer Dörfer besaßen die Čichačevs kleine hölzerne Herrenhäuser; erst 1843 errichteten sie in Dorožaevo ein steinernes. Besonders enge soziale Kontakte bestanden zu Nataljas Bruder Jakov Černavin.

Das Buch ist thematisch gegliedert. Zunächst werden die Provinz und ihre Gesellschaft, dann das Dorf und die Gutsverwaltung behandelt, um die herum sich das Leben der Čichačevs abspielte. Darauf folgen lebensweltliche und alltagsgeschichtliche Abschnitte zu Geselligkeit, Wohltätigkeit und Freizeit sowie Krankheit, Kummer, Leid und Tod. Weitere Kapitel thematisieren häusliches Leben und Mutterschaft, die Erziehung des Sohnes Aleksej sowie Andrej Čichačevs öffentliches Engagement und seine Ideen- und Vorstellungswelt. Die Autorin stellt dabei das individuelle Schicksal des adeligen Ehepaars immer wieder in einen breiteren Kontext.

Interessant ist die Aufgabenteilung innerhalb der Familie, die Antonova gut herausarbeitet. Andrej las viel und kümmerte sich intensiv um die Erziehung und Bildung der Kinder, insbesondere des Sohnes Aleksej, bevor dieser das Pensionat in Moskau besuchte. Zudem war er publizistisch tätig. Natalija leitete die Gutsverwaltung sowie den Haushalt und war für wirtschaftliche und finanzielle Fragen zuständig. So sehr dies für den landwirtschaftlichen Bereich im Vergleich zu Westeuropa erstaunlich erscheint, ist es für Russland, wo adlige Frauen auch über ihren Besitz verfügten, kein unbekanntes Phänomen. Die Verfasserin betont den Gender-Aspekt und gelangt anhand der Analyse von Tagebüchern der beiden Čichačevs zu dem Ergebnis, dass viele Lebensbereiche durch die Kategorie des Geschlechts bestimmt wurden. So stellt das Kapitel zur Gutsverwaltung eine Beschreibung und Analyse dreier Tagebücher Natalijas aus den Jahren 1835–1837 dar. In ihren Aufzeichnungen beschränkte sich die adelige Gutsbesitzerin auf haus- und landwirtschaftliche Aspekte, private Reflexionen und weitergehende Gedanken (wie sie für ihren Mann vorliegen) fehlen. Dies erklärt Antonova damit, dass Natalija Čichačevainsbesondere während der Erntezeitden ganzen Tag mit praktischer Arbeit beschäftigt war. Antonovas Befunde werfen dabei wiederholt die Frage auf, inwiefern die hier für die Čichačevs geschilderten Gender-Praktiken überhaupt typisch für den mittleren russischen Adel sind.

Für Andrej Čichačev arbeitet sie heraus, dass er stark von zeitgenössischen Schriftstellern wie Faddej Bulgarin und die von diesem mitherausgegebene Zeitung Severnaja pčela beeinflusst wurde. Es sei schwierig, Čichačev und seine Gedankenwelt politisch zuzuordnen, da er weder Slawophiler noch Westler gewesen sei und sichobwohl von beiden Richtungen beeinflusstin keines dieser Klischees einfüge. Antonova bescheinigt den Čichačevs eine unerschütterliche Bewunderung für die Monarchie und die kaiserliche Familie sowie eine politisch konservative und religiös-orthodoxe Einstellung. Das Leben auf dem Dorf nahm Andrej Čichačev in idealisierender Weise wahr, wobei er die Leibeigenschaft ebenso wenig in Frage stellte wie das undemokratische, autokratische politische Herrschaftssystem. Sein Verhältnis zu den Bauern war, so die Autorin, von Paternalismus geprägt. Andrejs Verständnis der Leibeigenschaft entsprach den im Adel zu jener Zeit vorherrschenden, sentimentalen und romantischen Vorstellungen.

Andererseits wird deutlich, dass Andrej Čichačev zugleich ein aufgeklärter Provinzadeliger war. Er gehörte der in wirtschaftlichen Fragen progressiven Vladimirer Gruppe der Kaiserlichen Moskauer Agrargesellschaft an und befürwortete eine Rationalisierung der Landwirtschaft. Dementsprechend stand er technischen Innovationen positiv gegenüber und errichtete beispielsweise zusammen mit seinem Schwager Jakov Černavin eigenhändig eine telegraphische Verbindung zwischen ihren beiden Landsitzen. Zudem war er überzeugt vom Wert der Erziehung. Diese sollte moralische Standards vermitteln. Deswegen förderte er auch die Bildung von Bauern und gründete eine der ersten Bibliotheken für sie in Russland. Auch anderweitig engagierte er sich für das öffentliche Wohl, beispielsweise durch Sammlungen für einen Kirchenbau.

Die Čichačevs führten ein geselliges Leben. Andrej und sein Schwager tauschten sich intensiv über die Bücher, Zeitungen und Zeitschriften aus, die sie lasen und sich gegenseitig ausliehen. Die Publikationen in mehreren Zeitschriften und die Korrespondenz mit seinen Lesern sowie den Mitarbeitern der Journale ermöglichten es Andrej, auch von der Provinz aus mit einem weiteren Personenkreis in Kontakt zu treten und an der öffentlichen Meinungsbildung teilzunehmen.

Antonova gelingt es mit ihrer Mikrostudie sehr gut, den Lebensalltag, die Ansichten und die Vorstellungswelt der Čichačevs herauszuarbeiten. Das Buch zeugt von einer tiefen Durchdringung der Quellen. Das Bild, welches dabei entsteht, zeigt den Provinzadel in einem positiven Licht: Andrej erscheint als aufgeklärt und wissensdurstig, und er war um die Erziehung und Bildung seiner Kinder bemüht. Dabei bediente er sich moderner pädagogischer Methoden. In seiner politischen, religiösen und gesellschaftlichen Einstellung war er jedoch konservativ.

Bereichert wird das Buch durch Stammbäume der beiden Familien, Landkarten, mehrere anschauliche Faksimile der Ego-Dokumente und ein Orts-, Personen- und Sachregister.

Stefan Lehr, Münster

Zitierweise: Stefan Lehr über: Katherine Pickering Antonova: An Ordinary Marriage. The World of a Gentry Family in Provincial Russia. Oxford: Oxford University Press, 2013. XIX, 304 S., 11 Abb., 2 Ktn., 2 Graph. ISBN: 978-0-19-979699-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Lehr_Pickering_Antonova_An_Ordinary_Marriage.html (Datum des Seitenbesuchs)

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