Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stefan Lehr

 

Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Band 3: Parallelen. Hrsg. von Hans Henning Hahn und Robert Traba, unter Mitarbeit von Maciej Górny und Kornelia Kończal. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2012. 490 S., 42 Abb. ISBN: 978-3-506-77341-8.

Inhaltsverzeichnis:

http://www.schoeningh.de/uploads/tx_mbooks/9783506773418_iv.pdf

 

Mit dem dritten (allerdings zuerst veröffentlichten) der auf fünf Bände konzipierten ReiheDeutsch-polnische Erinnerungsorte, die jeweils auch in einer polnischen Ausgabe erscheinen, präsentieren die Herausgeber eine Auswahl von 22 deutschen und polnischen Erinnerungsorten. Diese sehr zu begrüßende Initiative von Hans Henning Hahn und Robert Traba stellt eines der derzeit wichtigsten und umfassendsten deutsch-polnischen Forschungsprojekte dar. Auch im europäischen Kontext kommt dieser Reihe eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Das Projekt verknüpft das Konzept der Erinnerungsorte (lieux de mémoire) Pierre Noras und verschiedene Ansätze der aktuellen Gedächtnisforschung mit der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte. Mit dieser interessanten und innovativen Herangehensweise bietet es in komparatistischer Perspektive viele neue Einblicke. Am Anfang des Sammelbands findet sich ein Verzeichnis aller in den ersten drei Bänden thematisierten deutsch-polnischen Erinnerungsorte und eine knappe, jedoch gehaltvolle theoretisch-methodische Einführung der Herausgeber. Die Palette der im dritten Band behandelten parallelen Erinnerungsorte ist breit und facettenreich: Die größte Gruppe stellen historische Persönlichkeiten dar. So wird das Nachleben von Geistlichen (Heiliger Bonifatius und Heiliger Adalbert), Staatsmännern und Feldherren (Wallenstein und Radziwiłł, Prinz Eugen und Jan III. Sobieski), Schriftstellern (Freytag und Sienkiewicz, Goethe und Mickiewicz) sowie Musikern (Beethoven und Chopin) betrachtet. Unter den erinnerten Ereignissen, topographischen Orten und Phänomenen trifft man auf Kriege im 17. Jahrhundert (Dreißigjähriger Krieg und Potop), Abwehrschlachten (Teutoburger Wald und Cedynia), Flüsse (Rhein und Weichsel), Räume und Raumvorstellungen (Mitteleuropa und Intermarium), Reiche, Verfassungen sowie Nationalhymnen. Aber auch Themen wie die Geheimpolizei (Stasi und ubecja), zwei siegreiche Fußballspiele (Bern 1954 und Wembley 1973), Autos (Käfer, Maluch und Trabi), Kindersendungen, Orte der internationalen Politik (Versailles, Jalta, Potsdam), Weiblichkeitskonzepte, der Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder von 1965 und Brandts Kniefall am Warschauer Ghetto-Mahnmal sind in diesem Band zu finden.

Die untersuchten Erinnerungsorte beziehen sich auf historische Phänomene in Deutschland und Polen, die auf der Ebene der Funktionalität Parallelen zeigen, jedoch zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen für die jeweilige Erinnerungskultur führen können. Alle Beiträge werden durch einen kurzen ereignisgeschichtlichen Abriss eingeleitet. Darauf folgt eine kompakte Darstellung der Erinnerung an die Geschehnisse, Personen und damit verbundene Phänomene in unterschiedlichen Epochen (meist seit der Zeit des 19. Jahrhunderts), und wie sie sich wandelten, jeweils für Polen und Deutschland. Das jeweilige Fazit fokussiert Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Aufgrund der Fülle an Beiträgen kann im Folgenden nur eine kleine Auswahl vorgestellt werden.

Hans-Jürgen Bömelburg vergleicht die Erinnerung an das Heilige Römische Reich (Deutscher Nation) und die polnisch-litauische Adelsrepublik Rzeczpospolita. Er stellt zu einzelnen Aspekten eine funktional ähnliche Erinnerung fest, weist jedoch auch deutliche Abweichungen nach. Die Aussage, dass sowohl auf polnischer als auch deutscher Seite insbesondere im 19. Jahrhundert eine sakral-nationale Aufladung der Vergangenheit stattfand, gilt auch für viele andere hier behandelte Erinnerungsorte. Eine funktionale Parallele lässt sich darin sehen, dass sowohl in polnischen als auch in deutschen aktuellen Diskussionen um die Gestaltung der Europäischen Union auf den Modellcharakter der beiden Reiche verwiesen wird, ohne dabei jedoch die Ähnlichkeiten beim jeweiligen Nachbarn wahrzunehmen. Die Feststellung, dass das Gedenken in Polen eine größere Kontinuität aufweist als in Deutschland, trifft nicht nur auf den Fall der Rzeczpospolita bzw. des Deutschen Reiches, sondern auch auf andere der hier behandelten Erinnerungsorte zu. Dies zeigen Christoph Kleßmann und Robert Traba beispielhaft am Gedächtnis an die Ostgebiete beider Länder (kresy, Deutscher Osten) und die darüber  tradierten Bilder. So begründete der romantische Schriftsteller W. Pol jene positive, idealisierende Vorstellung derkresy, die namhafte Schriftsteller des Positivismus wie etwa E. Orzeszkowa und H. Sienkiewicz weiter festigten. Dieses nationalpolnische Bild, das die konfliktreichen Nationalitätenverhältnisse weitgehend ausblendet, verschwand auch in der Zeit der Volksrepublik Polen nicht aus dem kollektiven Gedächtnis. Ähnlichkeiten dazu weist die Darstellung des deutschen Ostens in den Formen der Wahrnehmung und der Stereotypenbildung, der Sakralisierung und Mythisierung sowie der Heroisierung und Idealisierung auf. Jedoch sind auch Unterschiede deutlich und bezeichnend: So stand derDeutschen Osteninsbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einer expansiven staatlichen Politik in Verbindung, die in den massiven Verbrechen der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg ihren traurigen Höhepunkt fanden. Wohl auch diese historischen Gründe sorgten dafür, dass sich eine verklärende Erinnerung an den Deutschen Osten in der Bundesrepublik zunehmend auf das Vertriebenen-Milieu beschränkte und heute aus dem kollektiven Gedächtnis der jüngeren Generation verschwunden ist.

Vergleicht man die Rezeption der ersten polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791 und der Paulskirchenverfassung von 1848, also zweier letztlich gescheiterter Konstitutionen, so zeigt sich für den polnischen Fall erneut eine größere Kontinuität in der Erinnerung und eine stärkere Verankerung im öffentlichen Bewusstsein. Allgemein fällt bei vielen der im Buch behandelten historischen Bezugspunkte auf, wie stark die politischen Systeme beider Länder die Erinnerungskultur beeinflussten. Funktionale Gemeinsamkeiten finden sich immer wieder in der nationalpolitischen Aufladung und Instrumentalisierung von Ereignissen. Im deutschen Falle diskreditierte der Nationalsozialismus mit seinem übersteigerten Nationalismus längerfristig jedoch in vielen Fällen die Berufung auf die eigene nationale Vergangenheit und legte damit ungewollt den Grundstein für eine kritische Auseinandersetzung, die zu einer deutlichen Distanzierung vom nationalen Paradigma führte. So haben Erinnerungsorte wie der Deutsche Osten oder Gustav Freytag ihre ursprüngliche Bedeutung verloren, während ihre polnischen Äquivalente im dortigen kollektiven Bewusstsein weiterhin präsent sind. Allgemein wird auch deutlich, dass geographisch-lokalen Erinnerungsorten heute oft eher ein kommerziell-touristischer Stellenwert zukommt.

Wünschenswert wäre in einigen Beiträgen eine stärkere Berücksichtigung der Erinnerungskultur in der DDR gewesen, um die mehrfach anzutreffende einseitige Fokussierung auf die Bundesrepublik zu vermeiden. Gerade die durch das Staatssystem vorgegebenen Parallelen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen hätten förderliche Erkenntnisse erwarten lassen.

Mitunter lesen sich längere Passagen wie eine Begriffs- oder Rezeptionsgeschichte, andere beschreiben primär die Zeremonien von Festen, Gedenktagen und Feiern, was nach der Novität des Konzepts der Erinnerungsorte fragen lässt. Auch lässt sich nicht übersehen, dass zu vielen der hier behandelten Themen bereits erinnerungsgeschichtliche Untersuchungen vorliegen. Da diese bisher jedoch nur exklusive nationale Perspektiven berücksichtigen, enthält der Sammelband gerade durch den Vergleich doch auch viel Neues. Diese wenigen Anmerkungen ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass sich das Konzept der Erinnerungsorte sowie die gelungene Umsetzung im besprochenen Band äußerst gut zur Vermittlung von Geschichte und Geschichtsbildern eignen, zumal es auch Laien den Einstieg in die Geschichtswissenschaft erleichtert. Viele Erinnerungsorte sind ja im breiteren Kollektivbewusstsein auch heute noch verankert und wecken Neugier. Besonders die Überwindung einseitiger Nationalperspektiven bietet hier einen Gewinn, da der Leser nicht nur viel über die Reflexion der eigenen nationalen Vergangenheit, sondern auch über die des Nachbarlandes erfährt.

Stefan Lehr, Münster

Zitierweise: Stefan Lehr über: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Band 3: Parallelen. Hrsg. von Hans Henning Hahn und Robert Traba, unter Mitarbeit von Maciej Górny und Kornelia Kończal. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2012. 490 S., 42 Abb. ISBN: 978-3-506-77341-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Lehr_Hahn_Deutsch-polnische_Erinnerungsorte_3.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Stefan Lehr. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.