Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stefan Lehr

 

Anna V. Belova: Četyre vozrasta ženščiny. Povsednevnaja žizn’ russkoj provincial’noj dvorjanki XVIII – serediny XIX vekov [Die vier Lebensalter der Frau. Das Alltagsleben der russischen Provinzadligen vom 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts]. Sankt-Peterburg: Aletejja, 2010. 480 S. ISBN: 978-5-91419-305-5.

Über das Alltagsleben russischer adliger Frauen des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jh. in der Provinz wissen wir bisher wenig. Ziel der Tver’er Historikerin Belova ist es, die „vier Lebensalter“ (Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter) aus weiblicher Perspektive für den Provinzadel darzustellen. In einer ausführlichen Einleitung geht die Verfasserin auf ihre methodologischen Ansätze ein und zeichnet dabei die allgemeine Entwicklung der Forschung in Deutschland und Russland nach. Hierbei stützt sie sich auf die Gender- und Alltagsgeschichte sowie die historische Anthropologie (S. 16–80), ohne jedoch auf die Geschichtsschreibung zum Adel einzugehen. Auch in den vier darauf folgenden großen Kapiteln zu Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Lebensabend werden anfangs methodologische Probleme behandelt, wodurch Redundanzen mit der Einleitung entstehen. Belova interessieren die weiblichen Perspektiven, Wahrnehmungen und Mentalitäten. Die auf den Tver’er Adel gestützten Beispiele beschränken sich vorwiegend auf drei Familien (Lichačev, Licharev, Manzej), die in den einzelnen Kapiteln verstreut auftauchen, ohne jedoch einen tieferen Einblick in die Geschichte dieser Adelsgeschlechter zu liefern.

Im Kapitel zur weiblichen Kindheit untersucht Belova den Wandel der Wahrnehmung dieses Lebensalters im Verlauf eines halben Jahrhunderts und die geschlechtlich unterschiedliche Rezeption der Werke von Rousseau bei männlichen und weiblichen Lesern. Sie geht auf Autorinnen von Kinderbüchern ein und behandelt damals gebräuchliches Kinderspielzeug und Kinderkleidung. Weder die Schriftstellerinnen noch die behandelten Gebrauchsgegenstände stehen jedoch in einem speziellen Zusammenhang mit dem Provinzadel. Ausführlich betrachtet die Verfasserin Ausbildungseinrichtungen für adelige Mädchen in Petersburg (und hier insbesondere das von Katharina der Großen gestiftete Smolnyj-Institut, welches auch Adelige aus der Provinz besuchten). Institute für junge weibliche Adlige in der Provinz werden jedoch nicht erwähnt.

Im Kapitel über die Jugend thematisiert Belova, wie sich weibliche Identität im Verhältnis zu Körper und Sexualität äußerte. Eingehend behandelt sie die Bedeutung und den Prozess des Heiratens und der Hochzeit aus weiblicher Perspektive. Hier, wie auch im Kapitel zum Erwachsenenalter, wo es ihr vor allem um die Schwangerschaft, die Geburt und das Stillen der Kinder geht, wird anschaulich gemacht, welche zentrale Rolle diese Ereignisse im Leben der Frauen spielten. Wenn die Verfasserin aber als Beispiele immer wieder auf die hochadelige Fürstin Daškova oder die baltendeutsche Adelige Barbara Juliane von Krüdener verweist, wirft sie unbewusst die Frage auf, ob diese überhaupt für den russischen Provinzadel repräsentativ sind.

Im letzten und kürzesten Kapitel behandelt Belova insbesondere den Lebensabend ihrer Protagonistin Elizaveta N. Lichačeva. Nachdem diese ihren Mann verloren hatte, führte sie als Familienoberhaupt ein aktives Witwenleben, in dem sie sich um die Kinder und die Gutsverwaltung kümmerte. Die Verfasserin zeigt an Lichačevas Beispiel, was wohl für viele russische Adelige gilt: dass sie nicht nur in der Provinz präsent waren, sondern auch in den Gouvernements- und den beiden Hauptstädten. Problemtisch erscheint hier nur, dass die Lichačevs mit tausend Leibeigenen (S. 451) zu den wohlhabenden russischen Adeligen gehörten und somit nicht repräsentativ für den Provinzadel sind. Zudem hinterließ Lichačeva mit nur einem Brief und zwei unterzeichneten Dokumenten eine dünne Überlieferung (S. 461).

Hilfreich sind die Verzeichnisse publizierter Memoiren, die die Verfasserin jeweils getrennt nach männlichen und weiblichen Autoren aufführt, sowie eine ebenfalls geschlechterspezifisch aufgeschlüsselte kurze Bibliographie von Tagebüchern und Briefen. Zu bemängeln ist, dass das Buch weder ein Personen- noch ein Ortsregister besitzt. Der kurze, eine Seite umfassende Schluss bleibt oberflächlich und fasst nicht die Ergebnisse der Arbeit zusammen.

Die bewusst gewählte weibliche Perspektive Belovas bietet neue, zuvor oft vernachlässigte und unberücksichtigte Einsichten in eine von Privatem und Familiärem geprägte und allem Anschein nach unpolitische Lebenswelt. Insgesamt verspricht der Titel des Buches indes mehr, als die Darstellung hält. Die Beispiele aus den Briefwechseln beschränken sich überwiegend auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts und fast ausschließlich auf einige Adlige aus dem Gouvernement Tver’. Sehr oft zieht die Verfasserin auch Ego-Dokumente des Hochadels heran. Gerade hier fehlt die Auseinandersetzung damit, was überhaupt den Provinzadel ausmacht und wer dazu zu zählen ist.

Stefan Lehr, Münster

Zitierweise: Stefan Lehr über: Anna V. Belova: Četyre vozrasta ženščiny. Povsednevnaja žizn’ russkoj provincial’noj dvorjanki XVIII – serediny XIX vekov [Die vier Lebensalter der Frau. Das Alltagsleben der russischen Provinzadligen vom 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts]. S.-Peterburg: Aletejja, 2010. 480 S. ISBN: 978-5-91419-305-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Lehr_Belova_Cetyre_vozrasta_zensciny.html (Datum des Seitenbesuchs)

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