Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stephan Lehnstaedt

 

Rudolf Jaworski / Florian Peters: Alltagsperspektiven im besetzten Warschau – Perspektywy codzienności w okupowanej Warszawie. Fotografien eines deutschen Postbeamten (1939–1944) – Fotografie niemieckiego urzędnika pocztowego (1939–1944). Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2013. 74 S., 113 Abb. = Materialien zu Kunst, Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas, 2. ISBN: 978-3-87969-380-1.

Warschau im Zweiten Weltkrieg gehört zu den am besten erforschten Städten in Osteuropa; inzwischen liegen teils sogar mehrere monographische Untersuchungen sowohl zum Alltag von Polen und Juden als auch zu den deutschen Besatzern vor. Zudem sind Fotografien aus dieser Zeit zahlreich überliefert und bekannt, aber meist handelt es sich dabei für die Seite der Okkupanten um Propagandaaufnahmen oder aber um einzelne Amateurbilder. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass mit dem vorliegenden schön gestalteten Band nun ein im Archiv des Herder-Instituts in Marburg vorhandener, geschlossener Bestand mit Amateurfotos eines höheren deutschen Funktionärs vorgelegt wird. Hermann Beierlein, 1910 geboren und 2004 gestorben, war als beamteter Ingenieur Leiter des Fernmeldeamts im besetzten Warschau und lebte von 1939 bis 1944 in der Stadt. Dienstlich war er für den Betrieb der wichtigen Telefonverbindungen zuständig; im Privatleben ging er dem Hobby des Fotografierens nachund fand außerdem unter den volksdeutschenFräulein vom Amtseine künftige Ehefrau.

Soviel wir über Beierlein wissen, war er ein durchaus typischer deutscher Zivilbesatzer. Umso interessanter sind seine Aufnahmen, denn sie können dadurch eine gewisse Repräsentativität für das Alltagserleben beanspruchenoder zumindest dafür, was man eines Bildes als würdig erachtete. So dokumentieren die Aufnahmen zunächst den Dienstalltag und hier besonders den Wiederaufbau des von den Kampfhandlungen 1939 in Mitleidenschaft gezogenen Fernmeldeamts sowie den dortigen Dienstbetrieb; technische Details interessierten den Fotografen genauso wie die Betriebsamkeit seiner Mitarbeiter und Kollegen. Aus dem Privatleben wird natürlich die Hochzeit gezeigt, aber auch die eigene Wohnung, Betriebs- und Urlaubsreisen. Dazu kommt der polnische Alltag aus der überlegenen Perspektive des Besatzers, der allerlei Erscheinungsformen des Kriegselends verewigt und Straßenhandel und Bettler ebenso abbildet wie klassische Sehenswürdigkeiten wie etwa die Altstadt, Schlösser und Denkmäler; dass dabei auch die Zerstörungen, die 1939 infolge des deutschen Bombardements entstanden waren, ins Bild geraten, darf man getrost als Absicht bezeichnen: es ging natürlich auch darum, den eigenen Sieg und die eigene militärische Überlegenheit zu verdeutlichen.

Auch die alltägliche Gewalt fand ihren Niederschlag in den Fotos. Der Postbeamte dokumentierte zunächst abgesägte und beschädigte Telegrafenmasten und -leitungen, zeigte dann aber auch die Beerdigung eines Kollegen, der anscheinend vom polnischen Untergrund getötet worden war. Die deutsche Gegengewalt wird ebenfalls festgehalten, wobei besonders zum Warschauer Aufstand 1944 eindrucksvolle Bilder vorliegen, die die deutschen Exzesstaten drastisch in Szene setzen; Kampfhandlungen, Erschießungen, Leichen und Deportationen zur Zwangsarbeit sind festgehalten. Für den Aufstand im Ghetto ein Jahr früher findet sich das in der damaligen Besatzergesellschaft beliebte Bild des brennenden Ghettos, das von einem Hausdach aus beobachtet wirdwobei Beierlein nicht nur den Rauch an sich zeigt, sondern auch die neugierigen Kolleginnen und Kollegen, die zusehen.

Die beiden Herausgeber haben diese aufschlussreichen Bilder mit einem klugen Kommentar versehen, der in die Biographie Hermann Beierleins ebenso einführt wie in die Überlieferung seiner Fotos und die Geschichte Warschaus während der Okkupation. Dies ist umso wertvoller, als der Originalbestand im Archiv durch keine weiteren Aufzeichnungen Beierleins begleitet wird. Der Leser findet bei Jaworski und Peters aber nicht nur zuverlässige Einordnungen und Hinweise auf die relevante Forschungsliteratur, sondern auch kluge Bemerkungen zur biographischen Dimension fotografischer Überlieferungenund besonders erfreulich ist, dass dies zweisprachig auf Deutsch und Polnisch geschieht. Wirklich neue Erkenntnisse liefert das Buch dabei freilich nicht, aber das ist auch nicht das Ziel dieser Edition. Vielmehr geht es um die Dokumentation eines Bestands zur Ikonographie des Alltags, und dies ist sehr gut gelungen. Am Ende, nach insgesamt 113 Bildern (von denen allerdings nicht alle von Beierlein stammen, etwa wenn sie die Zerstörung Warschaus 1945 illustrieren, als die Besatzer bereits geflohen waren), bleibt so beim Leseroder besser: Betrachterhöchstens der Wunsch nach noch mehr Abbildungen aus dem rund 300 Fotografien umfassenden Bestand.

Stephan Lehnstaedt, Warschau

Zitierweise: Stephan Lehnstaedt über: Rudolf Jaworski / Florian Peters: Alltagsperspektiven im besetzten Warschau – Perspektywy codzienności w okupowanej Warszawie. Fotografien eines deutschen Postbeamten (1939–1944) – Fotografie niemieckiego urzędnika pocztowego (1939–1944). Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2013. 74 S., 113 Abb. = Materialien zu Kunst, Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas, 2. ISBN: 978-3-87969-380-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Lehnstaedt_Jaworski_Alltagsperspektiven_im_besetzten_Warschau.html (Datum des Seitenbesuchs)

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