Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stephan Lehnstaedt

 

Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche.

Teil 1: Imperien des Altertums, mittelalterliche und frühneuzeitliche Imperien;

Teil 2: Neuzeitliche Imperien, zeitgeschichtliche Imperien, Imperien in Theorie, Geist, Wissenschaft, Recht, Architektur, Wahrnehmung und Vermittlung.

Hrsg. von  Michael Gehler / Robert Rollinger. Mitarbeit von Sabine Fick und Simone Pittl. Wiesbaden: Harrassowitz, 2014. 1762 S., Ktn., Abb., Tab. ISBN: 978-3-447-06567-2.

Inhaltsverzeichnis:

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Selten ist die Bezeichnung ‚monumental‘ für ein Werk so angebracht wie für diesen zweibändigen Sammelband mit zusammen 1.762 Seiten und einem Gewicht von dreieinhalb Kilo. Die Herausgeber haben ganze 60 Beiträge zusammengetragen, die einer einwöchigen Konferenz in Hildesheim 2010 entstammen. Die Dimensionen zeigen deutlich, warum hier eher ein Handbuch zu Imperien und Imperialismustheorie vorliegt als ein typischer Tagungsband. Die Zeitspanne umfasst – und das ist im gegenwärtigen Boom der Imperialismusstudien wirklich ungewöhnlich – die Antike bis zur Gegenwart, wobei nur rund die Hälfte der Studien der Neuzeit betrifft, dafür aber die vorgriechische Zeit bemerkenswert gut vertreten ist: inklusive eines Überblicks über altorientalische „Imperien“ des 3. und frühen 2. Jahrtausends vor der Zeitrechnung durch Hans Neumann finden sich 18 Beiträge beispielsweise zu Babylonien, Assyrern, dem teis­pidisch-achaimenidischen Reich, den Hethitern, Kusch oder Urartu.

Explizit wurden außerdem nicht-europäische Reiche der Neuzeit mit aufgenommen wie beispielsweise Indien mit mehreren Texten, China oder die Azteken. Leider ist Osteuropa schwach vertreten, neben je einem Text zu Russland und der Sowjetunion vermisst man mindestens die polnisch-litauische Rzeczpospolita und die Przemysliden, zudem gibt es auch nur einen Aufsatz zu ‚den‘ Mongolenreichen. Noch erstaunlicher ist das Fehlen des deutschen Kaiserreichs des 19./20. Jahrhunderts, wohingegen das Dritte Reich, das zuletzt Mark Mazower als „Hitlers Imperium“ bezeichnete, von Hans-Ulrich Thamer betrachtet wird, aber lediglich auf zwölf wenig instruktiven Seiten. Bei manchen Beiträgen, wie etwa von Heinz Halm zu Fatimiden, Ayyubiden und Mamluken, bleibt außerdem der Eindruck, dass sie bloß der Vollständigkeit halber aufgenommen wurden und nur die Vortragstexte darstellen.

So ist die mangelnde Einheitlichkeit eine echte Schwäche des Werks, die sich außerdem in verschiedenartigen Zitationsstilen niederschlägt. Ursprünglich gedacht waren wohl Kurztitel in den Fußnoten, denen dann eine Literaturliste folgt. Das ist tatsächlich in vielen Artikeln so realisiert und gerade im Sinne eines Handbuchs sehr hilfreich – aber eben längst nicht bei jedem Text. Hier stellt sich die Frage, warum die Herausgeber und insbesondere der Verlag nicht doch noch ein wenig Zeit und Mühe investiert haben – beim stolzen Preis von 198 Euro für beide Bände kann der Leser dergleichen durchaus erwarten. Vorbildlich hingegen ist, dass es ein Personenregister (mit 21 Seiten) gibt, außerdem viele hervorragende Karten und zahllose Abbildungen.

Insgesamt ist viel zu loben: So haben die Herausgeber explizit einen methodischen Ansatz vorgegeben, der im Prinzip zu einem ähnlichen Aufbau aller Texte führen sollte – woran sich dann nicht alle Autoren hielten. Meist aber folgt auf einen realgeschichtlichen Abriss eine theoretische Reflexion über den Imperiumscharakter des dargestellten Reichs, an den sich weitere spezielle Fragestellungen anschließen. Mustergültig macht das der Mitherausgeber Robert Rollinger in seiner Untersuchung des Perserreichs, wo er umfassend Selbstbild und Herrschaftslegitimation analysiert, dann nach Krise und Ende des Imperiums fragt, und anschließend dessen Rezeptionsgeschichte und mediale Repräsentation bis hin zu Comic und Film „300“ betrachtet. Andere Artikel gehen auf das Verhältnis von Zentrum und Peripherie ein, auf Mythen oder Selbstdarstellungen und -wahrnehmungen.

Zu diesem reflektierten Vorgehen passt ein methodisch-didaktischer Teil mit über 300 Seiten, der an anderer Stelle einen eigenen Sammelband hätte ergeben können. Rol­linger und Michael Gehler weisen außerdem schon in ihrer anregenden Einführung auf die Lücke hin, in die sie mit ihrem Band stoßen: die mangelnde Analyse von Imperien außerhalb der Neuzeit. Die ebenfalls für die Imperialismusforschung konstatierten seltenen Fragestellungen außerhalb der Politikgeschichte sind eine zutreffende Beobachtung, werden aber hier nicht eingelöst; stattdessen gibt es vorwiegend Geschichten ‚von oben‘. Immerhin erfüllen die Aufsätze meistens die Forderung nach größerer Berücksichtigung definitorischer Fragen, selbst wenn es keinen Mut zur Lücke bzw. zur Falsifikation gibt; letztlich kommen alle Beiträge zu dem Ergebnis, dass ihr Einzelfall als Imperium gesehen werden kann. Das gilt auch für ganz aktuelle Beispiele wie Hans-Jür­gen Schröders Aufsatz über die USA im 20./21. Jahrhundert und sogar für die Europäische Union, die Gehler immerhin als „eine Hegemonialmacht mit postmodernen und neo-imperialen Zügen“ (S. 1297) bezeichnen möchte. Freilich soll das keine Kritik sein; ganz im Gegenteil ist das einer der ausführlichsten und besten Beiträge.

Selbst wenn die Schwerpunktsetzung nicht immer ganz nachvollziehbar ist – drei Beiträge zu Spanien in der Frühen Neuzeit, aber nur einer zum British Empire (Peter Wende kommt hierbei auf 18 Seiten mit nur fünf Literaturhinweisen aus) – ist dieses Buch vollauf zu empfehlen. Ohne die Beteiligung der ‚üblichen Verdächtigen‘ der aktuellen deutschen Imperialismusforschung, wie etwa Herfried Münkler, Sebastian Conrad, Jörn Leonhard oder Ulrike von Hirschhausen liegt hier ein Band vor, der sogar zum Blättern und Schmökern einlädt. Gerade der interdisziplinäre Ansatz mit Vertretern der Archäologie, Politologie oder Kunstgeschichte ermöglicht spannende Seitenblicke, wie Paul Naredi-Rainers Betrachtung der St.-Michaels-Kirche in Hildesheim zeigt. Demnach drückt die dem Bau zugrunde liegende mittelalterliche Zahlenmystik mit ihrer mathematischen Perfektion die „Ordo“ aus, also die göttliche Ordnung, die wiederum die eigene Herrschaft legitimiert – Kathedralenbau war mitnichten nur ein Wettstreit um die schiere Größe, sondern auch um theologische Symbolik. Es dürfte außerdem kaum einen Historiker geben, der sich bei allen hier untersuchten Reichen auskennt, weshalb auch in der eigenen Disziplin viele Entdeckungen zu machen sind. Zwar wird der Spezialist vielleicht nicht zu ‚seinem‘ Imperium unbedingt etwas Neues erfahren, aber doch vom analytischen Zugang und dem dadurch möglichen systematischen Vergleich profitieren können – selbst wenn er diesen selbst durchführen muss, denn eine Synthese leistet das Werk trotz des gegenteiligen Versprechens im Titel nicht. Insgesamt wird aber trotz kleinerer Kritikpunkte sehr deutlich, welche Früchte eine epochenübergreifende Kooperation tragen kann.

Stephan Lehnstaedt, Warschau

Zitierweise: Stephan Lehnstaedt über: Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche. Teil 1: Imperien des Altertums, mittelalterliche und frühneuzeitliche Imperien; Teil 2: Neuzeitliche Imperien, zeitgeschichtliche Imperien, Imperien in Theorie, Geist, Wissenschaft, Recht, Architektur, Wahrnehmung und Vermittlung. Hrsg. von Michael Gehler / Robert Rollinger. Mitarbeit von Sabine Fick und Simone Pittl. Wiesbaden: Harrassowitz, 2014. 1762 S., Ktn., Abb., Tab. ISBN: 978-3-447-06567-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Lehnstaedt_Gehler_Imperien_und_Reiche_in_der_Weltgeschichte.html (Datum des Seitenbesuchs)

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