Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stephan Lehnstaedt

 

The Holocaust in the East. Local Perpetrators and Soviet Responses. Ed. by Michael David-Fox / Peter Holquist / Alexander M. Martin. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2014. XII, 265 S. ISBN: 978-0-8229-6293-9.

In Deutschland wird der Holocaust immer noch meistens aus der Perspektive der Täter und gelegentlich aus der der Opfer geschrieben. Die Zuschauer und Kollaborateure in der Sowjetunion hingegen sind deutlich seltener Gegenstand von Untersuchungen. Deshalb lohnt der vorliegende schmale Sammelband auch für Spezialisten einen Blick, zumal sie vermutlich eher nicht zu den regelmäßigen Lesern der Zeitschrift Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History gehören werden. Dort erschienen bereits fünf der sieben hier edierten Aufsätze, aber die Herausgeber haben erstens kleinere Überarbeitungen veranlasst und zweitens dazu noch zwei kurze, kluge Überblicksbetrachtungen eingeworben, die eine Einordnung vornehmen.

So kann das Buch auf ein echtes Desiderat verweisen: Die viel zu seltene Verbindung von Studien zum Holocaust mit der Osteuropäischen Geschichte, die sich nach Ansicht des Rezensenten als Fachgebiete oftmals ignorieren. Das trifft sicher für den angloamerikanischen Bereich noch viel mehr zu als hierzulande, wo es aber cum grano salis durchaus auch gilt. Im Fokus des Bandes stehen insbesondere Bessarabien sowie der Umgang der Sowjetunion mit dem Holocaust nach 1945. Lediglich Marci Shore widmet sich mit ihrer Analyse der Jedwabne-Debatte einem Thema, das geographisch und zeitlich aus dem Rahmen fällt – und überzeugt durch ihre Prägnanz. Über diesen Judenmord im gleichnamigen ostpolnischen Dorf durch die lokale polnische Bevölkerung direkt nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 ist in den letzten Jahren viel geschrieben worden, aber die Diskussion fand vor allem in unserem Nachbarland statt.

Shore untersucht in ihrem erstmals 2005 gedruckten Beitrag die Reaktionen polnischer Wissenschaftler auf Jan Tomasz Gross’ Buch Sąsiedzi („Nachbarn“), in dem dieser den Antisemitismus der Einheimischen beschrieben hatte, den er für das Pogrom in Jedwabne verantwortlich macht. Sie zitiert umfassend und argumentiert, dass auf Grund dieser Auseinandersetzungen endlich die polnisch-jüdischen Beziehungen in einem breiteren Kontext des europäischen Totalitarismus gesehen werden könnten, in dem ein brutales Regime das andere ablöste. Die Frage sei nun, was diese Regime mit menschlicher Identität und zwischenmenschlichen Beziehungen machten. Jedwabne zeige, was sie ermöglichten und wieso es keinen Ausweg zur „Normalität“ gab. Eine Antwort bleibt sie schuldig, aber das ist wohl höchstens im Rahmen einer Monographie zu erledigen – die ein dringendes Desiderat und eine intellektuelle Herausforderung ist.

Und in der Tat war Ostpolen nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall. (Siehe hierzu jetzt Witold Mędykowski: W cieniu gigantów. Pogromy Żydów w 1941 roku w byłej sowieckiej strefie okupacyjnej. Kontekst historyczny, społeczny i kulturowy. Warszawa 2012.) Diana Dumitru kann das anhand der sowjetischen Untersuchungen zu Verbrechen in Bessarabien belegen, in denen gegen die lokale Bevölkerung wegen Judenmorden ermittelt wurde. Ähnlich wie Vladimir Solonari in seinem Fallbeispiel kommt sie zu dem Ergebnis, dass der „Durchschnittstäter“ sich in nichts von anderen Einheimischen unterschied: Er war durchschnittlich gebildet, ökonomisch ähnlich gestellt und ragte auch sonst in keiner Weise hinaus. Die „Banalität des Bösen“ ist hier wie in Jedwabne eine vollkommen zutreffende Beschreibung – Hannah Arendt hatte das klar als Merkmal totalitärer Systeme erkannt, selbst wenn es auf ihr Beispiel Adolf Eichmann wohl gerade nicht zutraf.

Vermutlich gerade wegen dieser Gemeinsamkeiten war die Sowjetunion nicht besonders daran interessiert, sich mit diesem Geschehen zu beschäftigen. Das zeigt prägnant Karel Berkhoffs Text zum Holocaust in den russischen Medien zwischen 1941 und 1945. Die Ignoranz setzte sich nach Kriegsende fort, was Marina Sorokinas Aufsatz über die Untersuchung von NS-Verbrechen klar zeigt. Die Außerordentliche Staatskommission, die eigentlich diesem Zweck dienen sollte, erwies sich als politisches Instrument, das letztlich nur Stalins Befehle ausführte. Sie entwickelte sich zu einer Art Geist, der seine Aufgabe erfüllte, indem er die Erinnerung an die eigenen Verbrechen an den Juden von den Sowjetbürgern fernhielt; stattdessen verbreitete er erfolgreich Propaganda gegen das faschistische Deutschland und die Bundesrepublik. Dieser wurde – nicht zu unrecht – ein zu laxer Umgang mit der Vergangenheit vorgeworfen, was hervorragend als Ablenkung von den eigenen Untaten funktionierte. Gerade deshalb stellen die Akten der Kommission eine wahre Fundgrube dar, die aber mehr über sowjetische Politik denn nationalsozialistische Massenmorde aussagen – und in jedem Fall eine quellenkritische Herausforderung darstellen.

Neben Dumitrus Text ist der von Tarik Cyril Amar der zweite Originalbeitrag. Am Beispiel der Stadt L’viv (Lemberg) beschreibt er den Holocaustdiskurs als einen Nicht-Erinnerungsort. So wie das Regime in Moskau stets die besondere Verfolgung der Juden durch die Deutschen zugunsten der aller Sowjetbürger ignorierte und die Opfer nachträglich ihrer jüdischen Identität beraubte, entstanden in Lemberg eigene Tropen, die traditionelle Stereotypen mit ukrainischen nationalen Motiven verbanden. Die Todfeinde Sowjets und ukrainische Nationalisten gaben allerdings nicht zu, dass sie diese Gemeinsamkeit einte: Das Schweigen über die jüdischen Toten, das den Holocaust zwar anerkannte, aber als eine gewissermaßen selbstverständliche, allgemein bekannte – und deshalb vernachlässigenswerte – Tatsache behandelte.

Insgesamt bietet das Buch einige anregende Ideen und vernachlässigte Blickwinkel. Allerdings wurden fünf der insgesamt neun Texte bereits früher schon gedruckt, und von den neuen Aufsätzen enthalten zwei nur knappe generalisierende Bemerkungen und fassen die anderen Beiträge zusammen. Leider haben die Herausgeber auch auf ein Register verzichtet, was den Nutzwert zusätzlich einschränkt. Andererseits passen die Texte gut zueinander und ergänzen sich, weshalb für einen Sammelband ein vergleichsweise geschlossenes Bild entsteht. Weil Kritika in Deutschland nur in wenigen Bibliotheken vorhanden ist und der Preis nur 20,80 Euro beträgt, kann sich eine Anschaffung dennoch lohnen.

Stephan Lehnstaedt, Warschau

Zitierweise: Stephan Lehnstaedt über: The Holocaust in the East. Local Perpetrators and Soviet Responses. Ed. by Michael David-Fox / Peter Holquist / Alexander M. Martin. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2014. XII, 265 S. ISBN: 978-0-8229-6293-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Lehnstaedt_David-Fox_The_Holocaust_in_the_East.html (Datum des Seitenbesuchs)

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