Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jan Kusber

 

David L. Ransel: A Russian Merchant’s Tale. The Life and Adventures of Ivan Alekseevich Tolchënov, Based on His Diary. Bloomington [etc.]: Indiana University Press, 2009. XXX, 320 S., 15 Abb., 5 Ktn., 2 Graph. = Indiana-Michigan Series in Russan and East European Studies. ISBN: 978-0-253-22020-2.

David Ransel hat sein neues Buch dem Leben eines russischen Kaufmannes der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewidmet. Er wendet sich damit einer Zeit zu, für die er im Bereich der Sozial- und Kulturgeschichte seit langem bestens ausgewiesen ist. In das Zentrum seiner Studie stellt er den Lebensweg seines Helden, seiner Familie, seiner Umwelt. Es geht Ransel also um die Rekonstruktion einer historischen Lebenswelt auf der Mikroebene, und sein Held ist der Kaufmann Ivan Aleekseevič Tolchënov: Dieser begann im Jahre 1769 damit, Tagebuch zu schreiben, und zwar über einen sehr langen Zeitraum. Mehr als vier Jahrzehnte umfassen seine Eintragungen, die in doppelter Hinsicht ungewöhnlich sind.

Zum ersten umfassen sie nicht nur Eintragungen über Geschäfte und Geschäftsverbindungen oder – was in adligen Tagebüchern dieser Zeit durchaus der Fall ist – eine Chronologie des Tagesablaufs, sondern Einsichten in sein Innenleben, seinen Blick auf die Welt, die ihn umgab. Manchmal knapp, manchmal ausführlicher charakterisiert er Personen Ereignisse und Umstände in seiner Heimatstadt Dmitrov – einer Stadt, die trotz ihrer Nähe zu Moskau nachgerade idealtypisch die Provinz der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts repräsentierte –, dann nach 1797 in Moskau, als er nach seinem Bankrott versuchte, seinen Gläubigern zu entkommen. Nicht immer sind die Eintragungen leicht entschlüsselbar, aber sie lassen doch Interpretationen zu, wie sich Tolchënov selbst in seiner Lebenswelt positioniert sah und an welchem Selbstbild er arbeitete. Wir erfahren nicht nur von seinem Interesse an seiner engeren Umwelt, sondern auch von seiner Neugier auf Wissenschaft und Kunst. Der Kaufmann lässt uns in Andeutungen an seinen Leseerlebnissen teilhaben.

Zum zweiten ist dieses Tagebuch ungewöhnlich, weil es, wie Ransel in seinem knappen Schluss selbst hervorhebt, auch ein Egodokument des Abstiegs eines russischen Kaufmanns ist. Die meisten bekannten Autobiographien aus dem Kaufmannsmilieu sind aus der Perspektive derjenigen geschrieben, die aufgestiegen waren und ‚oben blieben‘. Das war – dies wird aus Ransels Buch und dem Tagebuch seines Helden einmal mehr deutlich – keineswegs immer und vor allem nicht dauerhaft der Fall.

Es gibt aber im Tagebuch, wie der Verfasser aus dem historischen Kontext herausarbeitet, auch keinerlei Hinweise darauf, dass der Kaufmann und Bürgermeister für seine Söhne darauf hingearbeitet hätte, in den Adel aufzusteigen. Die beste Möglichkeit für einen dauerhaften Aufstieg bot der Versuch, über eine für Aufsteiger an Bildung gebundene Beamtenlaufbahn die Nobilitierung zu erreichen. Es scheint, dass Tolchënov diesen Weg für seine Nachkommen nicht angestrebt hat. Er suchte den Kontakt zum Adel und er brauchte ihn, wie Ransel betont, für seine Geschäfte, aber auch für sein gesellschaftliches Engagement. Immerhin wurde der Kaufmann Bürgermeister seiner Heimatstadt und agierte in den embryonalen Formen einer lokalen Gesellschaft, die von der katharinäischen Reformpolitik begünstigt war. Tolchënov engagierte sich für die öffentliche Fürsorge, vor allem aber auch religiös, etwa bei der Instandsetzung der Hauptkathedrale der Stadt. Tolchënov pflegte hier Umgang mit allen Gruppierungen der provinzialen Gesellschaft und fand, dies wird aus den von Ransel dargebotenen Auszügen deutlich, Strategien, sich als ein geachtetes Mitglied einer standesübergreifenden Gesellschaft zu zeigen, und dies auch nach seinem geschäftlichen Scheitern.

Ransel entschied sich aus zwei Gründen dafür, keine vollständige Edition des Tagebuch vorzulegen. Nicht alles hält er für interessant – dies mögen andere Historikerinnen und Historiker besonders künftighin durchaus anders sehen. Vor allem aber benutzt er das Tagebuch für eine mikrohistorisch orientierte Forschungs- und dann auch Erzählstrategie. Um das Tagebuch herum gestaltet er eine dichte Beschreibung, die es ihm ermöglicht, nicht die Geschichte einer sozialen Gruppe zu schreiben, sondern ein Panorama der herrschaftsfernen Gesellschaft im Russland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu entwerfen. Die Interaktionen zwischen Gruppen und Personen werden auf diese Weise ebenso lebendig wie Lebensumstände, persönliche Erwartungen und Enttäuschungen, die ein solches Leben ausmachten. Anhand dieses Tagebuches will Ransel also zum Zweiten auch interessant erzählen und mit dieser Erzählstrategie vom Individuellen ins Allgemeinere kommen. Alles in allem hat der Verfasser sein Ziele gekonnt erreicht. Er schafft es, die oft konstatierte Starrheit der russischen Gesellschaft der katharinäischen Epoche an verschiedenen Stellen zu hinterfragen. Sehr deutlich wird anhand dieses individuellen Lebens, dass die gesellschaftlichen Gruppen keineswegs nur nebeneinander, sondern in der Wahrnehmung und im Handeln auch miteinander agierten. Auf der anderen Seite konstatiert er in seinen knappen zusammenfassenden Bemerkungen, dass die Gesellschaft des Zarenreiches am Ende dieser Epoche stärker segmentiert war als um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Dagegen spricht allerdings in Teilen die Darstellung Ransels in seinem Buch selbst. Nichtsdestoweniger: Jedem, der an der russischen Sozial- und Kulturgeschichte dieser Zeit interessiert ist, sei das Buch wärmstens empfohlen! Und eine letzte Bemerkung: Wenn man die Auszüge aus dem Tagebuch Tolchënovs liest, hätte man über Ransels Buch hinaus vielleicht doch gerne eine wissenschaftliche Edition gehabt.

Jan Kusber, Mainz

Zitierweise: Jan Kusber über: David L. Ransel: A Russian Merchant’s Tale. The Life and Adventures of Ivan Alekseevich Tolchënov, Based on His Diary. Bloomington [etc.]: Indiana University Press, 2009. XXX, 320 S., 15 Abb., 5 Ktn., 2 Graph. = Indiana-Michigan Series in Russan and East European Studies. ISBN: 978-0-253-22020-2, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Kusber_Ransel_Merchants_Tale.html (Datum des Seitenbesuchs)

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