Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jan Kusber

 

Alexander M. Martin: Enlightened Metropolis. Constructing Imperial Moscow, 1762–1855. Oxford: Oxford University Press, 2013. XIV, 344 S., 2 Ktn., 13 Abb., 11 Tab. = Oxford Studies in Modern European History. ISBN: 978-0-19-960578-1.

Katharina II. war Moskau seit ihrem ersten Besuch im Jahre 1744 zuwider, und die Pest­unruhen des Jahres 1771 verstärkten ihre Abneigung. In der Gesetzbuchkommission, so ihre Beobachtung, waren die Moskauer Deputierten wenig aktiv. So machte Katharina ihre Kritik an Moskau zu einem imperialen Projekt aufgeklärter Reform. Sie wollte in Moskau ihre Vision einer aufgeklärten Stadt verwirklichen und sollte mit ihrem Generalplan für die Stadt insgesamt und für den Umbau des Kremls weitgehend scheitern. Galt dies auch für ihre Gesellschaftspolitik? Dies ist der Ausgangspunkt der Studie von Alexander Martin, die in eine Forschungslücke stößt. Westsprachliche Forschungen zur Geschichte Moskaus interessierten sich bislang vor allem für das Moskau nach den Großen Reformen Alexanders II. oder aber für die sozialistische Metropole. Christoph Schmidts instruktive Studie zur Sozialkontrolle in Moskau führt bis in die katharinäische Epoche hinein. Insofern schließt Martin schon eine zeitliche Lücke. Aber auch methodisch betritt er für Moskau neues Terrain. Er kombiniert Kultur- und Sozialgeschichte, Interesse an Struktur und Individuum. Moskau steht für den Verfasser als pars pro toto für den imperialen Rahmen, für dessen Prägekraft sich die sogenannte Imperialgeschichte in ihren Spielarten interessiert.

Martin geht also vom imperialen sozialen Projekt Katharinas II. aus. Referenzrahmen für Katharinas Politikhandeln war sicher der Abschnitt über die Städte der Großen Instruktion von 1767; sichtbares Ergebnis war die Gouvernementsreform, die auch für Moskau Relevanz besaß und, wichtiger, die Gnadenurkunde für die Städte 1785, die auch das Zusammenleben in Moskau strukturieren sollte. Ziel dieser Gesetzgebungsvorhaben sowie der Bildungspolitik war es, eine Mittelklasse zu generieren. Neben einen aufgeklärten Adel sollte ein „Dritter Stand“ treten, den Bildung und ökonomische Kompetenz charakterisierte und der sozialen Aufstieg ermöglichen sollte. Wie weit gelang dieser imperiale Politikansatz in Moskau?

Martin zeichnet für die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert das Panorama einer Stadt der Gegensätze: Gestank und Müll, Unsicherheit bei gleichzeitiger geringer staatlicher bzw. stadtobrigkeitlicher Präsenz stehen neben der Einführung einer Straßenbeleuchtung, die das städtische Leben in die Nacht ausdehnte und die Sicherheit erhöhte. „Gesellschaft als staatliche Veranstaltung“ (D. Geyer) ist als Befund für die Schilderung Martins sicherlich überspitzt, denn sehr bald eignete sich insbesondere der Moskauer Adel staatlich gewünschte Veranstaltungsformen in der Stadt in spezifischer Weise an. Es gab nur ein öffentliches Theater in Moskau, dafür aber offene Häuser, in denen man sich gegenseitig zu Veranstaltung und Vergnügungen besuchte und in denen sich fallweise der Adel und der Nukleus der intendierten „Mittelklasse“ begegneten. So gesehen schaffte die Straßenbeleuchtung die Möglichkeit der Begegnung und veränderte darüber hinaus Tagesabläufe in die Nacht hinein. Doch zur „lokalen Gesellschaft“ war der Weg noch weit. Die Regierung versuchte ihr imperiales Projekt durch Polizeiordnungen, punktuelle Förderung öffentlicher Wohlfahrt und Bildung, etwa im Moskauer Waisen- und Findelhaus, zu fördern, und war damit so erfolgreich oder ‑los, wie andernorts in Europa. Zu Katharinas sozialem Projekt gehörte auch, die Friedhöfe aus der Stadt zu verlegen, ähnlich Josef II. dies für Wien getan hatten. In der Publizistik und auch in Visualisierungen sollte der Diskurs über das Ziel initiiert werden. Beschreibungen und die Aufbereitung statistischer Daten, auf deren Grundlage Stadt- und Gesellschaftsentwicklung betrieben werden konnte, sollten den Diskurs befördern. Martin schildert mit Blick auf den Adel in der Stadt heterogene Befunde. Einerseits führte die Aneignung westlicher Lebensformen zu einem Repräsentationsbedürfnis, das in seinem Übermaß den Intentionen der Regierung zuwiderlief, andererseits sickerte Luxuskritik auch von adliger Seite am Beginn des 19. Jahrhunderts in den Diskurs ein.

Moskau wurde, dies schildert Martin auf der Mikroebenen anschaulich, attraktiv für soziale Aufsteiger, aus der Provinz. Handwerker aus der Provinz, aber auch Staatsbauern versuchten in der Stadt Fuß zu fassen. Kaufleute begannen in zunehmendem Maße zu Wohlstand zu kommen und sich einerseits an adligen Lebensformen zu orientieren, andererseits aber in Entwicklung eines kaufmännischen Selbstverständnisses auch die Abgrenzung vom Adel zu suchen.

1812 wurde mit der Besetzung und Zerstörung Moskaus in gewisser Weise zur Stunde der Wahrheit für das imperiale Projekt im Stadtraum. Alexander Martin kann hier an sein Buch von 1997, in dem er Positionierungen der Eliten um das Jahr 1812 herum herausgearbeitet hatte, anknüpfen. Die Zeit vor und während der Besetzung war die einer Außerkraftsetzung der imperialen Regeln, die die Gesellschaft hatten befördern und dann konservieren sollen. Mit dem Zusammenbruch der Autoritäten kam es zu Übergriffen auf Besitzende durch die Besitzlosen, ein Indikator dafür, dass das Design des von Martin überzeugend geschilderten imperialen Projekts eben nicht für alle gedacht war – nicht die städtischen Unterschichten, nicht die Bauern.

Nach 1812 erstand die Stadt im Stile des Neoklassizismus im Zentrum wieder neu. Ein Bau- und Entwicklungsplan von 1817 gab den Rahmen vor. Die Stadt wuchs jedoch schnell und keineswegs so regulär, wie es sich die Stadtplaner vorstellten. Stadtpolitik ging von der Idee her nicht über das katharinäische Design hinaus. Dies arbeitet Martin in der Schilderung des Suščevskaja-Distrikts außerhalb des Gartenringes heraus. Die dortigen Schulen waren eine Elitenunternehmung für die Wohlhabenden, das Krankenhaus trug immerhin zu einem Mindestmaß an medizinischer Versorgung bei und das Polizeirevier blieb ein Stützpunkt der staatlichen Ordnung, wurde aber nicht dessen flächendeckender Garant. Die verschiedenen Schichten lebten in diesem Distrikt, der im nikolaitischen Moskau zu den schlechteren zählte, auch weiterhin zusammen, oft unter einem Dach. Gerade auch in diesem Kapitel gelingt es Martin, das Moskau dieser Zeit lebendig zu rekonstruieren. Die Ego-Dokumente eines Goldschmieds, Dmitrij Volkov, kombiniert er mit anderen Quellen, um dessen Lebensweg aus der Provinz in die Stadt und seinen allmählichen Aufstieg zu erzählen. Dazu gruppiert er publizierte und unpublizierte Quellen (etwa Beichtregister), um die aus der Lebensgeschichte Volkovs gewonnen Einsichten zu verallgemeinern. Aufgrund der doch teilweise lückenhaften Informationen kombiniert Martin synchron und diachron andere Quellen hinzu, um ein Gesamtpanorama Moskaus vor 1855 zu schaffen. Dies gelingt durchaus, und es zeigt sich ein Bild, in dem der Adel zunehmend an Einfluss verliert.

Nicht alle reichen Details und Beobachtungen, die der Verfasser ausbreitet, können hier wiedergegeben werden. Andere Leser werden anderes an dieser scharf beobachtenden Studie hervorzuheben haben. Am Ende versucht Martin in einer Zusammenfassung zu fragen, wie sich das imperiale Projekt für Moskau bis zum Tode Nikolaus I. entwickelt hat. Er vergleicht die Pestunruhen von 1771 mit der geräuschlosen Bewältigung der Cholera-Epidemie von 1830, Nikolaus I. Reise in die Stadt vor dem Hintergrund der Epidemie wurde von seinen Untertanen durchaus gewürdigt. Die Durchsetzung von Ruhe und Ordnung bis zu dessen Tod 1855 ging jedoch damit einher, dass es im Grunde bei Katharinas Design einer Gesellschaft blieb, das auf den Adel und die Mittelklasse zielte. Institutionen und Zielgruppen wurden nicht verändert. Mit dem massiven bäuerlichen Zuzug insbesondere nach der Einweihung der Eisenbahn zwischen den beiden Hauptstädten war die Autokratie überfordert und das Stadtregiment auch. Dieser Befund ist ebenso zutreffend wie traditionell und spricht keineswegs gegen dieses lesenswerte Buch.

Jan Kusber, Mainz

Zitierweise: Jan Kusber über: Alexander M. Martin: Enlightened Metropolis. Constructing Imperial Moscow, 1762–1855. Oxford: Oxford University Press, 2013. XIV, 344 S., 2 Ktn., 13 Abb., 11 Tab. = Oxford Studies in Modern European History. ISBN: 978-0-19-960578-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kusber_Martin_Enlightened_Metropolis.html (Datum des Seitenbesuchs)

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