Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jan Kusber

 

Russian Empire. Space, People, Power, 1700–1930. Ed. by Jane Burbank, Mark von Hagen, Anatolyi Remnev. Bloomington, IN: Indiana University Press, 2007. XII, 538 S., Abb., Ktn., Tab. = Indiana-Michigan Series in Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-253-21911-4.

Die Beschäftigung mit dem Zarenreich als „Imperium“ hält an. Die Breite der Forschung lässt es bereits zu, von einer „New Imperial History“ zu sprechen, obwohl der Begriff nicht bestimmt ist. Die Angebote dessen, was das Russländische Imperium sein könnte, sind nicht homogener geworden. Nach wie vor sind durch den Vergleich angeregte, normativ zu denkende Definitionen oder aber „imperiale Situationen“, in denen sich Individuen und Gruppen orientieren, in der Diskussion.

Der hier anzuzeigende Sammelband sieht sich eher der zweiten Richtung verpflichtet. Jane Burbank und Mark von Hagen betonen in ihrem gedankenreichen Einleitungsessay die Vielfältigkeit der imperialen Situationen, Biographien, Praktiken. Das Imperium ist, so Burbank und von Hagen, ein Ensemble von Heterogenitäten, ein „moving target“ (S. 16), das sich der historiographischen Erfassung zu entziehen scheint. Sie nennen allgemeine Kriterien, die geeignet erscheinen imperiale Situationen herauszuarbeiten: Expansion, Umgang mit Raum und Größe sowie eine ständige Neuverhandlung dessen, was Zentrum und was Peripherie ist. (S. 16, 23). Signum ist auch die Vielfalt der Regierungspraktiken. Schließlich betonen Burbank und von Hagen die Notwendigkeit, zwischen dem Imperium als Staatsform und dem Imperium als Anspruch zu unterscheiden  (S. 25).

Die Herausgeber haben in den Sammelband, hervorgegangen aus einer Reihe von Konferenzen, eine erlesene Schar von Autorinnen und Autoren aufgenommen, die alle aus ihren Forschungsfeldern lesenswerte Beiträge vorgelegt haben, die um die Großthemen „Raum“, „Menschen“, „Institutionen“ und, kaum übersetzbar, „Designs“ kreisen.

Das führt zu einem uneinheitlichen Bild, das freilich die Komplexität der „New Imperial History“ widerspiegelt. Nicht alle Beiträge beziehen sich auf die einleitenden Erörterungen der Herausgeber, alle aber bieten lesenswerte Fallstudien. Ob Charles Steinwedel anhand der Integration der Baschkiren über Multiethnizität und Herrschaftsstrategien nachdenkt, ob Francine Hirsch die Bedeutung der Wissenschaft für die Beschreibung der auf die junge Sowjetmacht orientierten Ethnien herausarbeitet oder Ekaterina Pravilova über die  Abschaffung des Złoty durch den Rubel im Zuge der polnischen Aufstände als imperiale Strategie schreibt – immer gewinnt der Leser aufschlussreiche Einsichten in imperiale Praktiken.

Die Beiträge können hier nicht alle auch nur in ihrem Inhalt wiedergegeben werden. Hervorgehoben sei jedoch der Aufsatz von Willard Sunderland. Er schildert überzeugend, wie sich in der russländischen Elite des 18. Jahrhunderts ein territoriales Bewusstsein herausbildete und Territorialisierung zum Ziel des imperialen Staates wurde. War der Zar im 17. Jahrhundert, verkürzt gesagt, vor allem an den Einkünften interessiert, ging es im 18. Jahrhundert um Vermessung und Unterwerfung des Raumes durch Verwaltung. Die Epoche Katharinas II. stellte hier die Phase der „High Territoriality“ (S.45 f) dar, als Anspruch und als Praxis. Nach Auffassung Sunderlands wurde das Zarenreich in dieser Zeit zum Imperium.

Expansion wurde ein eigenes Ziel, es ging aber nun auch um die Integration durch Herrschaftsdurchdringung und Angleichung. Hervorgehoben sei schließlich auch der Aufsatz von Leonid Gorizontov, der vor dem Hintergrund der schon von Zeitgenossen geführten Debatte, was im Imperium Zentrum und was Peripherie bedeutet, danach fragt, was eigentlich der russische Kernbereich des Zarenreiches im 19. Jahrhundert war. Im Zuge von Nationsbildungsprozessen, imperialen Diskursen und der Diskussion über Slavophilie stellten sich Angehörige der gebildeten Elite die Frage, wo das „Herz“ des Zarenreiches, der „Great Circle of Interior Russia“ (S. 67) sei. Nikolaus I. selbst gab seinem Thronfolger bei einer Reise nach Kostroma mit, jener reise vom Rand in das Herz Russlands. Damit meinte Nikolaus nicht den Herkunftsort der Dynastie sondern einen zentralrussischen Raum, dessen Grenzen schwer zu beschreiben waren, den man aber gleichsam zu spüren meinte. Eine Antwort auf die Frage nach dem „Herzen“ ließ sich nur über die Negation präzisieren. Damit war dieses Konzept ähnlich vage wie das des Imperiums an sich. Sunderlands und Gorizontovs Beiträge stellen zwei historiografische Beispiele für die Schwierigkeiten des Imperiums dar, ein kohärentes Identitätsangebot zu liefern. Wenn schon die Zeitgenossen die Repräsentation des Imperiums als Prozess und Praxis  begriffen, warum sollten Historiker den Begriff dann normativ überregulieren?

Jan Kusber, Mainz

Zitierweise: Jan Kusber über: Russian Empire. Space, People, Power, 1700–1930. Ed. by Jane Burbank, Mark von Hagen, Anatolyi Remnev. Bloomington, IN: Indiana University Press, 2007. XII, 538 S., Abb., Ktn., Tab. = Indiana-Michigan Series in Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-253-21911-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kusber_Burbank_Russian_Empire_Space_People_Power.html (Datum des Seitenbesuchs)

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