Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Kristina Küntzel-Witt

 

Dittmar Dahlmann / Diana Ordubadi / Helena Pivovar (Hrsg.): Carl Heinrich Merck. „Beschreibung der Tschuktschi, von ihren Gebräuchen und Lebensart“ sowie weitere Berichte und Materialien. Göttingen: Wallstein, 2014. 552 S., 106 Abb., 1 Kte. = ISBN: 978-3-8353-1436-8.

Bis vor wenigen Jahren konnte man Carl Heinrich Merck (1761–1799) als den großen Unbekannten der deutschstämmigen Sibirienforscher des 18. Jahrhunderts bezeichnen, weil es Merck nicht vergönnt war, noch zu Lebzeiten seine Forschungsergebnisse zu ver­öffentlichen und weil auch später nur sehr wenige seiner Aufzeichnungen publiziert bzw. seine Manuskripte und Sammlungen zerstreut wurden. Nachdem Mercks Tagebuch über seine Erkundungsfahrten mit Joseph Billings entlang der Alëuten bis zur Küste Amerikas 2009 von Dittmar Dahlmann, Diana Ordubadi und Anna Friesen erstmals herausgegeben wurde, hat sich das geändert und Mercks Forschungsleistung erfährt damit jetzt eine späte Würdigung.

Der Engländer Joseph Billings (17611806) leitete zusammen mit Gavriil A. Saryčev (17631831) die nach ihnen benannte geheime Expedition, die von Katharina II. 1785 initiiert worden war, um den nordpazifischen Raum nach der II. Kamtschatkaexpedition unter Vitus Bering weiter zu erforschen und den russischen Machtanspruch über diese Region aufrecht zu erhalten. Carl Heinrich Merck schloss sich dieser Expedition 1786 in Irkutsk spontan an und begleitete Billings zunächst von 1788 bis 1791 auf dessen Erkundungsfahrt nach Alaska. Anschließend bereiste er 1791/1792 zusammen mit Joseph Billings und einigen wenigen Begleitern Čukotka; unter ihnen befand sich der Zeichner Luka Voronin.

In dem hier vorzustellenden zweiten Band wird Mercks Text über die Lebensweise der Čukčen erstmals ungekürzt veröffentlicht. Seine Aufzeichnungen enthalten die frühesten umfangreichen authentischen Beschreibungen der Čukčen (S. 109227), die am äußersten nordöstlichen Zipfel des Imperiums weitgehend abgeschieden lebten. Allein dieser Umstand macht Mercks Text zu einer außergewöhnlichen Rarität unter den Reisebeschreibungen Sibiriens aus dem 18. Jahrhundert. Merck und Billings gelang es, Zugang zu den Čukčen zu erlangen, den diese zuvor allen Fremden verweigert hatten. Im 18. Jahrhundert war Čukotka zwar formell Bestandteil des Russländischen Imperiums, informell aber galt es als unerschlossen und die Čukčen wurden als äußerst kriegerisch und unbeugsam angesehen.

Es fällt auf, dass sich Merck als Beobachter sehr zurückhaltend über alles äußert, was er bei den Čukčen erlebt und beobachtet hat. Nie hat man als Leser das Gefühl, hier würde jemand mit dem erhobenen Zeigefinger über die angeblich ‚rückständigen Indigenen schreiben, viel mehr dominieren äußerst präzise Beschreibungen der Verhaltensweisen der Čukčen den Text, z.B. über den äußerst effizienten Umgang mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen. So findet der eigene Urin bei ihnen vielfache nützliche Verwendung. Der Text ist zweifellos vor allem für Ethnologen besonders wertvoll, weil man mit seiner Hilfe den Wandel der Lebenskultur der Čukčen und ihres arktischen Lebensraums erfassen kann. Auch für Historiker ist der Text von Interesse, zeigt er doch, wie wenig präsent die russischen Invasoren noch im späten 18. Jahrhun­dert am äußersten Rand des Imperiums waren, während offenbar intensivere Kontakte zu den Alëuten und zum amerikanischen Kontinent bestanden.

Mercks Text wurde möglichst originalgetreu wiedergegeben und zurückhaltend kommentiert (S.109209). Die Handschrift ist ausgesprochen gut lesbar. Eingefasst wird der Haupttext durch eine Reihe von Artikeln, beginnend mit einer ausführlichen Einleitung der Herausgeber, die auch Bezug nimmt auf den anfangs erwähnten ersten Band von Mercks Aufzeichnungen und die komplizierte Geschichte darlegt, wie Mercks Manuskript endlich in das Familienarchiv der Darmstädter Dynastie gelangte (S. 746). Es folgen drei Artikel, in denen Mercks Werk wissenschaftlich eingeordnet wird. Zunächst stellt Lupold von Lehsten anhand von Mercks Freundschaftsalbum dessen Studienzeit in Gießen und Jena dar (S. 4767), anschließend erläutert Sylke Frahnert die Bedeutung von Mercks ornithologischer Sammlung, die leider völlig zerstreut wurde (S. 6880). Michael Knüppel arbeitet in seinem Beitrag die große Bedeutung von Mercks gesammelten Sprachlisten und ethnologischen Sammlungen für die Linguistik und Ethnologie heraus (S. 81106). Die von Merck zusammengestellten Wortlisten sind bislang nicht ausgewertet worden, hier werden sie am Ende des Bandes zumindest zusammengestellt (S. 395514). Sie dürften eine wahre Fundgrube für Linguisten sein, zumal sie auch andere Sprachen wie Jukagirisch und Itelmenisch umfassen und darüber hinaus Dialekte sorgsam aufgeführt werden. Die Wortlisten sind von Peter Simon Pallas (17411811) ergänzt worden, u. a. mit Aufzeichnungen von Stepan Krašeninnikov (gest. 1755). Pallas war Mercks wissenschaftlicher Berater und verwahrte nach dessen Tod zunächst auch seine Manuskripte, die dann nach seinem Tode auf verschlungenen Wegen nach Berlin gelangten.

Als Ergänzung und zum Vergleich wird der Auszug des Haupttextes hier noch einmal abgedruckt, der 1814 im Journal für die neuesten Land- und Seereisen erschienen ist (S. 227284), wobei deutlich wird, wie stark der Text gekürzt wurde und wie einschneidend die vorgenommenen Eingriffe in die Begrifflichkeiten den Originaltext veränderten. Des Weiteren ist noch ein Text von Mercks Begleiter und Gehilfen Carl Andreas Krebs aufgenommen worden (S. 285312), der 1814 zusammen mit dem vorher erwähnten Text erstmals erschienen war. In Krebs Text werden die Lebensverhältnisse der indigenen Bevölkerung auf den Alëuten beschrieben. Die Originalhandschrift ist leider verschollen, so dass hier keine Vergleichsmöglichkeit mehr existiert.

Anschließend folgt ein Artikel in russischer Sprache über Herkunft, Glaube und Bräuche der Jakuten, der 1806 in der Zeitschrift Ljubitel’ slovesnosti erschienen war (S.313327) und dessen Verfasser N. F. Ostolopov sich sehr stark auf Mercks Aufzeichnungen stützte. Hier wird dem Leser auch eine Übersetzung dieses Artikels angeboten (S. 328352).

Außerdem werden die erhaltenen Rapporte Mercks an Joseph Billings aufgeführt (S. 353367). Es folgt die Beschreibung der Vogelart Colymbus tschukotzkyensis (heute: Colymbus pacificus) (S. 369371) samt Illustration. Den Abschluss bildet ein Text über verschiedene Fischarten, die Merck erstmals entdeckt hat (S. 373395), bevor am Ende die erwähnten Wortlisten platziert sind, wo beispielsweise 17 verschiedene Dialekte auf Kamtschatka erfasst werden. Die Texte werden von zahlreichen Illustrationen ergänzt, die zum größten Teil aus der Feder Luka Voronins stammen. Abgerundet wird der Band durch einen sorgfältig ausgearbeiteten Anhang mit Quellen- und Literaturverzeichnis, einem Ortsnamen- und einem Personenregister.

Der Sammelband besticht nicht zuletzt durch die gute Lesbarkeit der Texte und sehr gute ästhetische Qualität der erwähnten Illustrationen, selbst die Reproduktionen der Wortlisten sind relativ gut zu entziffern. Der größte Wert dieses zweiten Bandes besteht fraglos darin, dass diese Texte endlich überhaupt ungekürzt publiziert wurden und damit auch Merck aus dem langen Schatten der anderen bedeutenden deutschstämmigen Sibirienforscher wie P. S. Pallas, G. F. Müller, J. G. Gmelin und G. W. Steller heraustritt. Das Gleiche lässt sich von der ganzen Billings-Saryčev-Expedition behaupten, die lange Zeit wenig im Fokus der Forschung stand, was sich dank der hier genannten Publikationen zu Merck und der in Kürze erscheinenden Dissertation von Diana Ordubadi über die Bedeutung dieser Expedition zumindest in Deutschland ändern sollte.

Kristina Küntzel-Witt, Lübeck

Zitierweise: Kristina Küntzel-Witt über: Dittmar Dahlmann / Diana Ordubadi / Helena Pivovar (Hrsg.): Carl Heinrich Merck. „Beschreibung der Tschuktschi, von ihren Gebräuchen und Lebensart“ sowie weitere Berichte und Materialien. Göttingen: Wallstein, 2014. 552 S., 106 Abb., 1 Kte. = ISBN: 978-3-8353-1436-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kuentzel-Witt_Dahlmann_Carl_Heinrich_Merck_Tschukschi.html (Datum des Seitenbesuchs)

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