Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Katharina Kucher

 

Anna Kuxhausen: From the Womb to the Body Politic. Raising the Nation in Enlightenment Russia. Madison, WI: University of Wisconsin Press, 2013. XIII, 228 S., 9 Abb., 2 Ktn., 1 Tab. ISBN: 978-0-299-28994-2.

Anna Kuxhausens Monographie befasst sich in sechs Kapiteln mit der kulturellen und politischen Bedeutung von Kindheit und Erziehung im Russland des 18. Jahrhunderts. Damit greift die Autorin ein höchst aktuelles Thema auf und reiht sich in eine wachsende Zahl von Studien zum lange vernachlässigten ThemaKindheit und Erziehung in Russland“ ein. Die Verfasserin zeigt, welche Vorstellung von Kindern die russischen Aufklärer hatten. Sie rückt insbesondere die mit der Kindheit verbundenenProzesse und EreignissewieSchwangerschaft, Geburt, Säuglingspflege, das Großziehen von Kindern sowie das Unterrichten(S. 3) in den Fokus ihres Interesses. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dieKonstruktion des Kinderkörpers(S. 4), dessen gesunder Entwicklung im Fahrwasser John Lockes substantielle Bedeutung zuwiesen wurde. Das Interesse an Kindern, die im Hinblick auf die Zukunft des Staates als nationale Ressource galten, wuchs, und die institutionalisierte Sorge um ihr Wohlergehen entwickelte sich zum Indikator für Russlands sozioökonomischen und kulturellen Zustand.

Das erste Kapitel widmet sich der Entwicklung des Diskurses über Erziehung, vospitanie, im 18. Jahrhundert. Dabei stand das Wohl des Staates uneingeschränkt im Zentrum des Interesses an der Erziehung: Ziel aller prominenten Denkervon Ekaterina Daškova über Katharina II. bis Nikolaj Novikovwar es, dasRohmaterial‘ Kind instarke, gesunde, hart arbeitende und moralisch untadelige Russen(S. 12) zu verwandeln. In diesem Kontext thematisiert die Autorin sowohl die aufkommende medizinische Ratgeberliteratur zu Schwangerschaft, Geburt, Kindererziehung und -heilung als auch die damit in Russland befassten Mediziner, die allerdings zu diesem Zeitpunkt ihre Ausbildung alle im Ausland erhielten. Mit demParadigma von vospitanie(S. 26) wurde Russlands Rückständigkeit, seineUnreife, auch als große und radikale Chance verstanden.

Nach Meinung der Autorin gehört die Geburtshilfe (zweites Kapitel) zu den vernachlässigten Themen der russischen Geschichte. Pavel Kondoidi, Arzt und Direktor des Medizinischen Kollegiums, bemühte sich ab 1754, die Hebammenausbildung zu institutionalisieren und zu professionalisieren. Er hoffte, die Ignoranz der Hebammen gegenüber der modernen Medizin zu überwinden und somit der Wöchnerinnen- und Säuglingssterblichkeit entgegenzuwirken. Das Interesse an einer entsprechenden staatlichen Ausbildung war allerdings gering und eine effiziente Kontrolle der praktizierenden Hebammen kaum möglich. Katharina II. zeigte sich einer modernen Geburtshilfe und der Einrichtung von Hebammeninstituten gegenüber aufgeschlossen, zudem wurden den von ihr mitinitiierten Waisenhäusern Geburtsstationen angeschlossen.

Ein weiteres zentrales Thema stelltewie auch in anderen europäischen Staatendas Stillen dar. Kuxhausen verweist im dritten Kapitel darauf, dass dieSorge um und die Ernährung der Säuglinge eine Angelegenheit von imperialer Relevanz war. (S. 55) Die insbesondere unter der adeligen Bevölkerung gängige Praxis des Stillens durch Ammen, wurdewie in anderen europäischen Ländern auchkritisch bis ablehnend betrachtet. Verwiesen wurde auf die medizinischen Vorteile des mütterlichen Stillens, das von manchen Reformern gar zurUntertanenpflicht“ erhoben wurde (S. 58).

Die folgenden beiden Kapitel widmen sich zwei miteinander verflochtenen Themen; erstens der Wahrnehmung des Kinderkörpers und dem diskursiven Umgang damit sowie zweitens der moralischen Erziehung derJugend des Empire(S. 93). Das Leiden von Säuglingen und Kindern und deren erziehungsbedingte physische Schwäche, die sich negativ auf ihre moralische Entwicklung im Erwachsenenalter auswirken konnte, stellten für die russischen Aufklärer eine Gefahr für das Wohl des Staates dar. Kuxhausen rekonstruiert die zentralen Themen des Diskurses aus der entsprechenden Ratgeberliteratur. Dabei werden Fragen der Ernährung gleichermaßen wie das Wickeln, die richtige Temperierung und Kleidung der Säuglinge und Kleinkinder im westeuropäischen und russischen Kontext diskutiert. Die Meinungen der Experten gingen mitunter auseinander, einig waren sie sich aber darin, dass eine Schädigung des Kinderkörpers nachhaltige Folgen sowohl für das Individuum als auch das Gemeinwesen haben würde. Mit dem Erreichen der Lesefähigkeit beziehungsweise des Schulalters traten die Kinder in die Phase ein, in der diemoralische Instruktionentscheidend wurde. Für die russischen Aufklärer bestand ein entscheidender Zusammenhang zwischen Erziehung und nationaler Identität, weshalb Sie hofften, mittels Veränderungen im Bereich der Schulen, des Unterrichts und der Lehrmaterialien sowie durch eineWiederbelebung der Orthodoxie(S. 93) Untertanen mit einen modernen nationalen Selbstverständnis zu schaffen. Über die Effizienz der ergriffenen Maßnahmen lassen sich wegen der Quellenlage nur bedingt Aussagen treffen; die ehrgeizigen Pläne für die Errichtung von Volksschulen wurden nicht wegen chronischer Unterfinanzierung und der Bevorzugung anderer Projekte nur bedingt verwirklicht. Am Ende des Kapitels verweist die Autorin auf den in ihren Augen wesentlichen Gender-Aspekt von Erziehung: Insbesondere die durch französische Hauslehrer vermittelte Frankophilie und die damit verbundene Abwendung der jungen russischen Adligen von eigenen Bräuchen und Wertvorstellungen galten als Gefahr für die russische Männlichkeit und den nationalen Idealcharakter. In zentraler Verantwortung für das Aufziehen einerstolzen, zivilisierten russischen Nationsahen die Reformer die Frauen, weshalb deren Erziehung und Ausbildung wachsende Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das letzte Kapitel, dieneue Mädchenzeit(S. 118) thematisiert dies am Beispiel von Katharinas prominentestem Erziehungsprojekt, der 1764 gegründeten Gesellschaft zur Ausbildung adliger Mädchen, des Smolnyj-Instituts. Kuxhausen beschreibt Ansprüche, Inhalte und Wahrnehmung dieser Lehranstalt, die ihrer Meinung nach zusammen mit dem allgemeinen Interesse an Mädchenbildung einenlangfristigen Effekt(S. 140) verbuchen konnte: Am Ende des 18. Jahrhunderts war es in adeligen Familien immerhin gängige Praxis, den Töchtern eine schulische Bildung zukommen zu lassen, und bis Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die Zahl entsprechender Institutezumindest im urbanen Raumbeträchtlich. Eine Entwicklung, die sich auch kulturell niederschlug: die institutka wurde zu einem Stereotyp in der russischen Literatur.

Abschließend verweist die Autorin auf eine Ambivalenz: Der russische Staat habe sich zwar mittels Bildungsmaßnahmen und -institutionen der Erziehung (vospitanie) seiner jungen Untertanen verschriebenallerdings bei gleichzeitiger Einschränkung durch Stand, Geschlecht und Konzepte nationaler Identität. Weiter hebt sie hervor, dass das russische Verständnis von vospitanie bei weitem nicht nur einen Import ausländischen Gedankenguts darstellte. Die Experten waren sich der Spezifik Russlands durchaus bewusst und hofften mit ihrem Einsatz, einaufgeklärtes, robustes, moralisch untadeliges Russland(S. 155) zu schaffen, das seinen Platz in Europa finden würde.

Anna Kuxhausen hat ein wichtiges Buch geschrieben; wichtig deshalb, weil es bislang keine um- und zusammenfassende Darstellung der Erziehungsvorstellungen im Russland des 18. Jahrhunderts gibt. Die zentralen Fragen werden gestellt. Allerdings lassen sich diese nicht auf 155 Seiten beantworten. Nachhaltig interessierte Leser werden enttäuscht sein, da die vielen angerissenen Themen nur selten mit dem gebotenen Tiefgang abgehandelt werden. Das Buch bietet aber einen Einstieg in das Thema, zeigt Desiderate auf und öffnet somit Feld für weitere Forschungen.

Katharina Kucher, Tübingen

Zitierweise: Katharina Kucher über: Anna Kuxhausen: From the Womb to the Body Politic. Raising the Nation in Enlightenment Russia. Madison, WI: University of Wisconsin Press, 2013. XIII, 228 S., 9 Abb., 2 Ktn., 1 Tab. ISBN: 978-0-299-28994-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kucher_Kuxhausen_From_the_Womb_to_the_Body_Politic.html (Datum des Seitenbesuchs)

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