Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Henner Kropp

 

Karl Schlögel: Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent. München: Hanser, 2013, 341 S., ISBN: 978-3-446-24404-7.

Die Erosion des kommunistischen Europa und der (Wieder-)Einzug dieser Länder in das Europäische Haus sind – neben seinen Standardwerken zur russischen Geschichte – die zentralen Themen in den Forschungen des Osteuropahistorikers Karl Schlögel (*1948). Als staunender Flaneur der europäischen Geschichte und Diversität bietet Schlögel Einblicke in neue wie alte Lebens- und Alltagswelten, die zwar auf den ersten Blick mitunter ungewöhnlich erscheinen, sich mittlerweile aber als unverkennbarer Stil des Autors etabliert haben: „[die] Perspektive, die sich mittlerweile als meine herausgebildet hat. Sie bietet keinen Überblick, weil ich einen Beobachtungspunkt auf mittlerer Höhe bevorzuge – nicht auf dem Aussichtspunkt, wo gewöhnlich Strategien entworfen werden, aber auch nicht im Getümmel ganz unten, das seine eigene Befangenheit und Betriebsblindheit produziert.“ (S. 23)

Diesem Ansatz bleibt Schlögel auch im vorliegenden Band treu, in dem er mit dem Leser die Impressionen seiner Streifzüge durch das Grenzland Europa teilt.

Schlögel stellt eine Collage ausgewählter Reden und Essays zusammen, die in vier thematisch mehr oder minder kohärente Teile gegliedert ist. Die Publikation verzichtet auf eine ausführliche Einleitung oder ein Resümee, lediglich im knappen Appendix lassen sich Hinweise und Anmerkungen zu den Texten finden. Auch sollte man sich vor der Lektüre darüber im Klaren sein, dass es sich ausschließlich um bereits veröffentlichte Text- und Redebeiträge handelt – Kenner des Werks von Schlögel werden also neue Aspekte in der Argumentation des Autors vermissen. Dies wird allerdings auch nicht als Ziel des Bandes ausgegeben, und wer mit den zahlreichen Publikationen des Autors noch nicht vertraut ist, bekommt mit dem vorliegenden Buch einen sehr guten Querschnitt gereicht.

Das eröffnende Kapitel „Europe Now!“ stellt vor allem die europaspezifische Binnenmobilität des Kontinents und das Mental Mapping seiner Bewohner vor. Der Autor identifiziert Billig-Airlines, Schienennetze und Autobahnen, aber auch Grenzen und Städte als „neuralgische Punkte, Messstellen […]. Aus solchen Messungen, die nun schon ein ganzes Leben angestellt werden, ergibt sich, alles zusammengenommen, eine Neuvermessung des Geländes, des Raumes, in dem wir leben.“ (S. 41)

Schlögels Bestandsaufnahme europäischer Infrastrukturen ist dabei keineswegs (nur) eine verkehrsgeschichtliche Analyse. Vielmehr geht es ihm um eine europäische Geschichte von unten, die nicht Unionsverträge oder EU-Politiker referiert, sondern die Bewohner des Kontinents in den Mittelpunkt stellt und darlegt, wie diese auf und mit dem geeinten Kontinent leben.

Im anschließenden Teil „Stimmübungen in D“ verjüngt sich die Perspektive auf Deutschland. In fünf Texten skizziert der Autor das Land vor, während und nach der Wiedervereinigung. Wieder einmal ist es der West-Ost-Transfer, den Schlögel in den Mittelpunkt seiner Analyse stellt. Einblicke in die Vor- und Nachgeschichte von 1989 nimmt der Autor also anhand von Beobachtungen zu Austausch und Kommunikation zwischen West und Ost, aber auch zur symbolpolitischen Begleitung und Aufarbeitung des Mauerfalls vor. Vor allem Berlin ist der Ort, dem Schlögel in diesem Abschnitt die ihm gebührende Prominenz einräumt.

Das Kapitel „Russischer Raum“ wartet mit den vielleicht charakteristischsten Merkmalen des Werks von Schlögel auf. Sowohl das von ihm mitgestaltete Paradigma des spatial turn und der Beobachtungen im Raum, als auch einer seiner bevorzugten Forschungsgegenstände, die Topographie Russlands, kommen hier zum Tragen. Auch seine Topoi der (ausbleibenden) Modernisierung des postsowjetischen Russlands sowie des ambivalenten Russlandbildes in Deutschland sind Bestandteil der Analyse.

Abschließend werden im Abschnitt „Neue Narrative für Europa“ noch einmal sehr unterschiedliche Motive zusammengetragen. So beschreibt Schlögel hier unter anderem die asymmetrische Erinnerungskultur in West und Ost, einen Rückblick auf Verlust und Vertreibung in Deutschland und Europa sowie eine fast melancholische Begehung des polnischen Dorfes Krzyżowa, ehe er mit einem zumeist theoretischen, aber sehr passenden Beitrag zu den begrenzten Möglichkeiten der Historiographie seinen Band beschließt.

Ausgangspunkt für Schlögels Beobachtungen ist ein Europa, das die schrecklichen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts in erstaunlicher Geschwindigkeit hinter sich gelassen und seine ganz eigene Erfolgsgeschichte geschrieben hat. Dieses Europa sieht sich nun neuen Herausforderungen – namentlich der Finanzkrise seit 2008 – ausgesetzt; Euro­skeptizismus und EU-Verdrossenheit greifen um sich. Dieser Entwicklung stellt Schlögel seine Gedanken und Beobachtungen eines anderen, eines stabileren und hoffnungsvolleren Europas entgegen, das er, wenn schon nicht als Alternative, so doch wenigstens als komplementäre Ergänzung der jüngsten Erschütterungen verstanden wissen will.

Schlögel vermag es, in seinem Buch eine Lanze zu brechen für den Kontinent und seine Eigenheiten, ohne dabei aber – dank sprachlicher Präzision, großem Sachverstand und einem durchaus persönlich angelegten Bezug zum Forschungsgegenstand – in eine eindimensionale Europa-Euphorie zu verfallen. Stil- und kenntnissicher gelingt es dem Autor, den Leser für sein Europa zu gewinnen – vor allem deshalb, weil er auch Defizite und dunklere Kapitel der allerjüngsten europäischen Geschichte benennt und so ein glaubwürdiges und kohärentes Bild der Entwicklungen seit 1989 zeichnet. So sind neben den starken integrativen Merkmalen Europas auch Armut, Gentrifizierung und vor allem das Bewusstwerden über die eklatanten Schwächen des Banken- und Finanzsystems und die Unvermeidlichkeit eines Abrückens von bisher gekanntem Wohlstand Teil der Analyse.

Ein Jahr nach der Publikation des Buches wurde der Krieg nach Europa zurückgebracht und Schlögel – Zeit seines Lebens Russlandversteher, damals ein Verdienst, heute ein Tadel – prägt aktiv die gegenwärtige Debatte um eine Neuausrichtung der West-Ost-Beziehungen durch eine Rekalibrierung seiner Perspektive und eine schonungslos scharfe Kritik an Russland. Doch die Lektüre seines Buches stimmt zuversichtlich, dass Schlögels Europa auch diese Krise meistern wird.

Henner Kropp, Regensburg

Zitierweise: Henner Kropp über: Karl Schlögel: Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent. München: Hanser, 2013, 341 S., ISBN: 978-3-446-24404-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kropp_Schloegel_Grenzland_Europa.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Henner Kropp. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.