Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reivews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Peter Mario Kreuter

 

Journeys into Madness. Mapping Mental Illness in the Austro-Hungarian Empire. Ed. by Gemma Blackshaw / Sabine Weber. New York, Oxford: Berghahn, 2012. VIII, 213 S., 24 Abb. = Austrian and Habsburg Studies, 14. ISBN: 978-0-85745-458-4.

Inhaltsverzeichnis:

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Österreich und psychisch kranke Habsburger, Wien und Sigmund Freud, Gustav Mahler und das Unterbewusste – die Verbindung von Donaumonarchie und Wahn bzw. Wahnsinn gehört zu den mittlerweile unausrottbaren Klassikern angeblich so eindeutig zusammengehörender Dinge. Auch architektonisch hat das Thema gerade in Bezug auf Wien viel zu bieten – der „Narrenturm“ und das Sanatorium Baumgartner Höhe mit der Anstaltskirche zum Heiligen Leopold dürften hier die markantesten Gebäude sein. Das Thema liegt also schon lange parat und anscheinend auch nahe.

In diesem Kontext ist auch der vorliegende Sammelband zu verorten. Er ist das Ergebnis einer im Jahre 2007 abgehaltenen Tagung mit dem Titel Journeys into Madness: Representing Mental Illness in the Arts and Sciences, 1850–1930 und darüber hinaus von der Ausstellung Madness and Modernity. Kunst und Wahn in Wien um 1900, die 2009/10 in Wien stattfand, beeinflusst. 11 Beiträge stellen sozusagen die Stationen dieser Reise dar, von denen vier hier stellvertretend vorgestellt werden sollen.

Steven Bellers Solving Riddles: Freud, Vienna and the Historiography of Madness (S. 27–42) hat, was bei der Thematik des Sammelbandes auch nicht verwundern kann, Sigmund Freud zum Fokus. Beller macht hier deutlich, wie Freud bei seiner Beschäftigung mit dem Unterbewussten und der menschlichen Psyche quasi als Nebenprodukt versuchte, die Ursachen des Antisemitismus zu erklären. Man kann Beller bei der Betonung der Wichtigkeit des Jüdischen für die Entwicklung der Psychoanalyse durchaus folgen – dem Judentum zugehörig hat sich Freud ja immer gefühlt. Angesichts der in vielerlei Hinsicht unorthodoxen Kindheit und Erziehung Freuds und seiner tiefverwurzelten Abneigung gegen das Religiöse möchte der Rezensent gegen die Intensität, mit der Beller diesen Aspekt herausstreicht, dann aber doch Zweifel anmelden.

Mit Symphonies und Psychosis in Mahler’s Vienna hat sich Gavin Plumley auseinandergesetzt (S. 43–57). Ausgangspunkt ist die Konsultation Freuds durch Gustav Mahler am 26. August 1910, mit der der Komponist die Affäre seiner Frau mit Walter Gropius aufarbeiten wollte. Zwar hinterließ Freud keine eigenen Aufzeichnungen über die Sitzung, doch hat Marie Bonaparte einige Bemerkungen Freuds in ihren Notizen festgehalten und so der Nachwelt erhalten. Plumley sieht daneben Mahlers psychische Probleme auch in der schwierigen Adaption eines im ländlichen jüdischen Milieu aufgewachsenen Mannes, der eben dieses Vorleben 1897 radikal durch die Konversion zum Katholizismus aufgeben musste, an das moderne Stadtleben begründet (S. 45–46).

Von den beiden Beiträgen, die sich eingehender mit der Geschichte der Institution des Sanatoriums beschäftigen, sei Travel to the Spas: The Growth of Health Tourism in Central Europe, 1850–1914 von Jill Steward ausgewählt (S. 72–89). Stewart weist im von ihr untersuchten Zeitraum einen sprunghaften Anstieg der Nachfrage nach Kuraufenthalten und damit einhergehend eine rasche Professionalisierung und Modernisierung des Kurbetriebs nach. Sie folgt dann vier ausgewählten Persönlichkeiten, die sie Health Travellers nennt (81) – Kaiserin Elisabeth, Lady Paget, Alma Mahler und Franz Kafka – bei ihren Kuraufenthalten. Besonders die Betrachtungen zu den drei Frauen sind höchst aufschlussreich, bieten sie doch einen genderbezogenen Blick auf das damaligen Kurwesen – so wenn sich Alma Mahler beklagt, dass sie in der Kur wie die Männer schlichte Leinenbekleidung zu tragen habe (S. 82). Auch dem in den Kurorten grassierenden Antisemitismus widmet Steward sich, wenn auch nur am Rande (S. 78).

Ein für Historiker besonders interessanter und wirklich gelungener Beitrag stammt von einer der Herausgeberinnen. Vienna’s Most Fashionable Neurasthenic: Empress Sisi and the Cult of Size Zero von Sabine Wieber (S. 90–108). Dies zum einen, weil Wieber knapp, aber prägnant den Aufwand skizziert, den Elisabeth betrieb, um sich nicht nur so lange als möglich ihre jugendliche Erscheinung zu bewahren („The Cult of Beauty“, S. 96–99, und „The Price of Beauty“, S. 99–101), sondern auch, um ihr Bild in der Öffentlichkeit zu kontrollieren. Und zum anderen, weil sie diesen Aufwand nicht als Spleen einer einzelnen Frau sieht, sondern klar im Kontext derjenigen Schönheitsideale betrachtet, denen, wenn auch völlig übersteigert, selbst eine Kaiserin zu folgen hatte, die dann an diesem Aufwand auch körperlich wie psychisch leiden sollte.

Ein wenig Kritik kann diesem grundsätzlich sehr erfreulichen Band dennoch nicht erspart werden. So ist es verwunderlich, dass Frauen alles in allem recht marginal vorkommen. Das ist angesichts der Bedeutung, die sie spielten, sei es als Forscherin, sei es als Patientin, nur schwer nachvollziehbar. Zwar gibt es das Kapitel zu Kaiserin Elisabeth, aber dennoch – Anna O. und Marie Bonaparte sind lediglich Randfiguren, und wäre nicht Lady Paget im Spa-Kapitel ausführlich erwähnt, so fehlte eine gewichtige Protagonistin des vorliegenden Generalthemas. Auch bleibt das 11. Kapitel, The Württemberg Asylum of Schussenried: A Psychiatric Space and Its Encounters with Literature and Culture from the ‚Outside‘ von Thomas Müller und Frank Kuhn (S. 182–199), ein kleines Rätsel. Zwar fasst der Beitrag vieles von dem, was in den Beiträgen zuvor schon dargestellt wurde, prägnant zusammen, nur tut er dies anhand eines Themas, das so gar nichts mit Österreich-Ungarn zu tun hat. Hier wäre eine kurze Einführung der Herausgeberinnen von Nutzen gewesen; die knappe Erklärung, dies sei der Historie geschuldet (S. 8), kann nicht überzeugen. Schließlich wird, dem Titel zum Trotze, zuvörderst Wien bzw. Cisleitha­nien (und auch dieses nur partiell) in den Fokus gerückt – Ungarn kommt weitgehend nicht vor.

Das Fazit fällt dennoch positiv aus. Journeys into Madness ist ein anregendes Buch, dessen Beiträge – was auch für die hier nicht vorgestellten gilt – sehr konzentriert die jeweilige Spezialfrage innerhalb des Generalthemas bearbeiten. Die wenigen Abbildungen sind klug ausgewählt und vermögen dort, wo das Wort zur Beschreibung nicht ausreicht, das Geschriebene vortrefflich zu illustrieren. Mag auch die Donaumonarchie in ihren Provinzen nur sehr ausgewählt repräsentiert sein, so sind die großen Themenfelder ausführlich behandelt.

Peter Mario Kreuter, Regensburg

Zitierweise: Peter Mario Kreuter über: Journeys into Madness. Mapping Mental Illness in the Austro-Hungarian Empire. Ed. by Gemma Blackshaw / Sabine Weber. New York, Oxford: Berghahn, 2012. VIII, 213 S., 24 Abb. = Austrian and Habsburg Studies, 14. ISBN: 978-0-85745-458-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kreuter_Blackshaw_Journeys_into_Madness.html (Datum des Seitenbesuchs)

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