Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ekkehard Kraft

 

Vera G. Čencova: Ikona Iverskoj Bogomateri. Očerki istorii otnošenij grečeskoj cerkvi s Rossiej v seredine XVII v. po dokumentam RGADA [Die Ikone der Gottesmutter aus dem Iviron-Kloster. Studien zur Geschichte der Beziehungen der griechischen Kirche zu Russland in der Mitte des 17. Jahrhunderts nach Dokumenten des RGADA]. Moskva: Indrik, 2010. 415 S. ISBN: 978-5-91674-102-5.

Die Thematik der russisch-griechischen Beziehungen in vorpetrinischer Zeit, an der die russische Historiographie vor der Oktoberrevolution ein deutliches Interesse zeigte, war in sowjetischer Zeit vernachlässigt worden, bevor das Interesse in deren Spätphase wieder zunahm und bis heute anhält. Dies zeigt sich auch darin, dass seit 2003 alljährlich Vorträge zum Gedenken an Nikolaj Kapterev stattfinden, dessen Beiträge zur Erforschung dieser Beziehungen vor 1917 von besonderer Bedeutung waren. Galt lange Zeit Boris Fonkič als herausragender Kenner der Thematik, so hat sich die einer jüngeren Generation angehörende Vera Čencova seit dem Beginn des letzten Jahrzehnts mit mehr als einem Dutzend Publikationen gleichfalls den Ruf einer profunden Kennerin der Thematik erworben. Ein guter Teil dieser Veröffentlichungen lässt sich als Vorarbeiten zu der hier zu rezensierenden Monographie bezeichnen. Diese schöpft aus den umfangreichen Archivbeständen des Moskauer RGADA und der Untersuchung von in zahlreichen Bibliotheken vorhandenen Handschriften; darüber hinaus hat sie die einschlägige Sekundärliteratur in zahlreichen Sprachen fast lückenlos berücksichtigt.

Ausgangspunkt der Monographie ist die heute im Museum des Novodevičij Monastyr in Moskau befindliche Ikone, die nach dem Vorbild der sogenannten Portaitissa-Ikone im Iviron-Kloster auf dem Athos gemalt wurde und im Oktober 1648 nach Moskau gelangte. Mehrere bislang ungeklärte Fragen standen für die Verfasserin am Anfang ihrer Untersuchung. Um diese zu beantworten, genügte es nicht, sich am Inhalt der im Zusammenhang mit der Ikone stehenden Urkunden zu orientieren. Es war vielmehr nötig, diese Urkunden mit den Methoden der Paläographie und Diplomatik genauer unter die Lupe zu nehmen. Auf diese Weise gelangte die Verfasserin zu Ergebnissen, die weit über die anfängliche Fragestellung hinausführen und neues Licht nicht nur auf den titelgebenden Gegenstand, sondern auch auf die griechisch-russischen Beziehungen um die Mitte des 17. Jahrhunderts werfen.

Die Systematik des Buches ist thematisch, nicht chronologisch. Der erste Teil wendet sich den Urkunden und den Personen zu, die als deren Schreiber und Absender fungierten, sowie dem Weg derer. die die Schreiben überbrachten, nach Moskau und ihrer Ankunft dort. Die Analyse, mit der Čencova auch einige frühere Fehlidentifizierungen von Schreibern durch Kollegen zu korrigieren vermag, ergab, dass die Begleitschreiben der Ikone nicht auf dem Athos abgefasst wurden, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach in einem Metochion des Iviron-Klosters in der Moldau oder Walachei. Demselben Schreiber kann Čencova weitere Urkunden zuordnen, die indes andere Absender und Überbringer aufweisen. Auf diese Weise reisten griechische Kleriker innerhalb weniger Jahre mehrmals nach Moskau, wobei sie jedesmal ein anderes Kloster zu vertreten vorgaben. Was auf den ersten Blick wie Betrugsversuch anmutet, war Tarnung, so die Autorin. Hinter dem Auftreten als Bittsteller ließ sich leicht verbergen, dass man als Abgesandter des Zaporoger Kosakenhetmans Chmelnickij, des moldauischen Hospodaren Vasile Lupu oder hoher orthodoxer Geistlicher mit einem politischen Auftrag unterwegs war. Außerdem waren die Reisenden auch dem Posolskij Prikaz von Nutzen, dem sie mit wichtigen Informationen dienten. Die Geld- und Sachgeschenke, die sie in Moskau erhielten, waren zum einen direkte Entlohnung, zum anderen wurden auf diese Weise finanzielle Mittel transferiert, die vor Ort politischen Zwecken dienen konnten.

Im zweiten Teil richtet sich der Blick der Verfasserin auf die Adressaten, vor dem Hintergrund der Beziehungen zwischen dem Moskauer Reich und Polen-Litauen sowie politischer Projekte griechischer Geistlicher, die sich in den Donaufürstentümern aufhielten. 1647 wurden die Grenzbehörden angewiesen, Griechen nicht mehr nach Moskau weiterreisen zu lassen. Den Grund hierfür sieht die Autorin im Wechsel der Leitung des Posolskij Prikaz. Der neue Leiter Nazarij Čistoj war ein Protegé des Bojaren Morozov, der nach der Thronbesteigung von Aleksej Michajlovič die Moskauer Politik dominierte. Morozovs außenpolitische Konzeption orientierte sich an der des früheren Patriarchen Filaret, des Vaters von Zar Michail, die strikt anti-katholisch ausgerichtet war. Die Bestrebungen griechischer Prälaten wie des ehemaligen Patriarchen von Konstantinopel Athanasios Patelaros, der als Kreter auch venezianischer Untertan war und sichvor dem Hintergrund des Kretischen Kriegesfür eine Allianz Moskaus mit den katholischen Mächten gegen die Osmanen einsetzte, waren nun unerwünscht. Das Einreiseverbot wurde indes nicht strikt durchgesetzt, was wohl damit zu erklären ist, dass Morozov nicht verhindern konnte, dass andere in Moskau über Einfluss verfügende Kreise diesen zugunsten der Griechen geltend machten. Morozov musste nach der Erhebung von 1648 Moskau verlassen. Ein im Grunde mögliches Bündnis mit katholischen Mächten kam dennoch nicht zustande. Der Kosakenaufstand in der Ukraine, der im gleichen Jahr ausgebrochen war und die Rzeczpospolita erschütterte, schuf völlig neue Bedingungen. Patriarch Paisios von Jerusalem bemühte sich in Moskau nun darum, die Unterstellung der Zaporoger Kosaken unter den Zaren zu fördern.

Am Ende kehrt das Buch wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück und behandelt die Anfänge der Verehrung der Iviron-Ikone in Moskau. Das Eintreffen der Portaitissa-Kopie wurde 1648 in Moskau, anders als es bislang stets behauptet, aber nie anhand der Quellen überprüft wurde, kaum beachtet. Viel mehr Aufsehen erregte dagegen die zweite Kopie, die die Iviriten 1652 Nikon, nun Patriarch, überbrachten. Diese war es auch, so Čencova, und nicht die Kopie von 1648, wie man bisher meinte, die 1654 das zarische Heer auf seinem Feldzug nach Smolensk begleitete. Seit 1656 befand sich diese Kopie in dem von Nikon gegründeten Valdajskij Iverskij Monastyr; in den Wirren der Russischen Revolution ging sie verloren. Im Zusammenhang mit der allgemein verbesserten Position der Griechen, nicht zuletzt im Kontext der seit 1649 unternommenen kirchlichen und liturgischen Reformen, gewann auch das Iviron-Kloster an Ansehen. Die Abstände zwischen den Bittreisen wurden auf drei Jahre reduziert; zugleich erhielt es das Nikolaus-Klosterhinter dem Ikonenmarktals Metochion (podvore) und war damit als einziges Athos-Kloster in Moskau präsent.

Die Monographie hat nicht nur zahlreiche Fragen im Zusammenhang mit der Iverskaja Bogomater erhellt. Zugleich hat sie offengelegt, in welch hohem Maß die griechisch-russischen Kontakte einen politischen Hintergrund hatten, was bisher zwar nicht unbekannt war, in diesem Umfang jedoch nicht wahrgenommen wurde. Zum Abschluss zieht die Autorin das Fazit, dass man sich bei der Erforschung der russisch-griechischen Beziehungen jener Zeit nicht nur auf jene Urkunden, die konkret im Zusammenhang mit einer Ikone oder einem Kloster stehen, beschränken darf, sondern das gesamte Archivmaterial der Zeit berücksichtigen muss, um nicht zu falschen bzw. oberflächlichen Schlüssen zu gelangen. Ihrem Urteil zufolge hat die Erforschung der Kontakte Russlands mit dem christlichen Orient noch kaum begonnen. Sie hat exemplarisch im vorliegenden Buch das Instrumentarium und die Methode für den Umgang mit dem reichen Fundus, den der Posolskij Prikaz hinterlassen hat, vorgeführt. Wer sich in Zukunft mit dieser Thematik beschäftigt, wird sich mit dieser herausragenden Monographie messen müssen.

Ekkehard Kraft, Dossenheim

Zitierweise: Ekkehard Kraft über: Vera G. Čencova: Ikona Iverskoj Bogomateri. Očerki istorii otnošenij grečeskoj cerkvi s Rossiej v seredine XVII v. po dokumentam RGADA [Die Ikone der Gottesmutter aus dem Iviron-Kloster. Studien zur Geschichte der Beziehungen der griechischen Kirche zu Russland in der Mitte des 17. Jahrhunderts nach Dokumenten des RGADA]. Moskva: Indrik, 2010. 415 S. ISBN: 978-5-91674-102-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kraft_Cencova_Ikona_Iverskoj_Bogomateri.html (Datum des Seitenbesuchs)

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