Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Hanna Kozińska-Witt

 

Scott Ury: Barricades and Banners. The Revolution of 1905 and the Transformation of Warsaw Jewry. Stanford, CA: Stanford University Press, 2012. XXII, 415 S., 12 Abb., 4 Ktn. = Stanford Studies in Jewish History and Culture. ISBN: 978-0-804-76383-7.

Der Historiker Scott Ury ist seit Jahren mit der Universität Tel Aviv verbunden. Das Buch entstand aus seiner dort vorgelegten Dissertation. Der Verfasser konzentriert sich auf die Periode um 1905, genauer die Vorphase der Revolution, der Revolution selbst und die Veränderungen des politischen Lebens in deren Folge. Die Hauptthese des Buches ist, dass der Revolution von 1905 sowohl für die moderne jüdische Öffentlichkeit und Kultur und für die Herausbildung einer modernen säkularen Identität als auch für die jüdisch-polnischen Wechselbeziehungen eine viel größere Bedeutung gespielt hat als es bisher eingeräumt wurde. Die Revolution verursachte nicht nur eine tiefgreifende Veränderung des Selbstverständnisses der jüdischen Einwohner von Warschau. Sie beendete dieÄra der Assimilation, veränderte grundlegend die Ideologie im Lager der judenfreundlichen Liberalen und progressiven Demokraten und führte schließlich zur Ethnisierung des Politischen und zur Entstehung von ethnischen politischen Lagern. Somit veränderte die Revolution die Fremd- und Selbstverortung aller Akteure jener Zeit. Der Verfasser hat sowohl die Akten der Gouvernementsverwaltung, der Polizei, der Parteien und Personennachlässe als auch großflächig Presse und Flugblätter, u.a. die wenig bekannten jiddisch-sprachigen, ausgewertet. Dazu kommt zeitgenössische schöne Literatur und der Briefwechsel von Literaten und politischen Aktivisten. In der Analyse bedient sich Ury der aktuellen Methoden der cultural studies, urban history und der Nationalismusforschung. Durch mehrere sorgfältig begründete und genüsslich ausgebreiteteVorgänger- und Doktorvätermordein der Einführung (u.a. Simon Dubnow und Jacob Katz) wird die Arbeit in den Kontext der jüdischen Historiographie gestellt und daraus ihr Anspruch abgeleitet.

Es ist eine auch aus anderen Werken bekannte Geschichte, die sehr lebendig und frisch erzählt wird. Zunächst widmet sich der Verfasser der Stadt selbst, die gerade in einem gewaltigen Wandel begriffen ist. Urys Warschau ist kein Organismus, sondern ein wucherndes Krebsgeschwür: Er unterscheidet nicht zwischen guten und schlechten Stadtgegenden. Warschau entwickelte sich rasant und intensivierte seine Anziehungskraft. Die vorwiegend jungen Möchtegern-Warschauer strömten in die fremde, glückversprechende Großstadt, wo sie total isoliert und einsam im städtischen Labyrinth herum­irrten, von keiner Sozialkontrolle mehr diszipliniert. In derMetropolelauerten die wohlbekannten Großstadtgefahren. Ury operiert mit den Begriffen von Unordnung und Planlosigkeit, die in einem unbeherrschbaren Chaos gipfeln, und erzählt von der Sehnsucht und der Suche nach einer neuen Ordnung, nach Zugehörigkeit und Verortung.

Ein weiteres Narrativ erzählt davon, dass die traditionellen Ordnungsmechanismen und Hierarchiestrukturen nicht mehr fähig waren, mit den Hinzuströmenden und der Haltlosigkeit der (neuen) Einwohner fertig zu werden. Die Machthabenden in der jüdischen Gemeinde (gmina) wurden durch ihren Starrsinn für das Chaos mitverantwortlich gemacht. Das Neue musste her, um ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Gemeinschaft (community) zu vermitteln. Schwerwiegend für die künftige Entwicklung war, dass die Vorsteher die Alteingesessenen, Liberal-Bürgerlichen und Polnisch-Akkulturierten repräsentierten. Die Entstehungsgeschichte der neuen Gemeinschaft wird als eine positive urban legend erzählt, die in einem scharfen Gegensatz zum Chaos­narrativ steht. Der ordnende Prozess fand in der modernenöffentlichen Sphärestatt, die nun auch im jüdischen Milieu im Entstehen war. Hier folgt Ury den Spuren von Jürgen Habermas und analysiert die Entstehung des modernen öffentlichen Raumes im Zusammenhang mit den Begegnungen in den Kaffeehäusern, in den Theatern und durch die Lektüre der Presse. (Ury sieht keine Traditionsfortsetzung zwischen der Zentralfunktion der dörflichen arenda und dem städtischen Kaffeehaus). Während sich anfangs die sprachlichen Grenzen nicht unbedingt mit den ethnischen deckten, hat die Entwicklung der jiddisch-sprachigen Presse und des Theaters die Stellung dieser Sprache gestärkt. Die neue Gemeinschaft stand der Entwicklung zur Nation offen gegenüber. Um diese Offenheit zu demonstrieren, zeichnet Ury das Einzugsgebiet der im Kongresspolen erscheinenden Presse über die Grenze dieser Provinz hinaus. Unklar bleibt jedoch, warum regional konzipierte Informationspresse für einen nicht in der Provinz wohnenden Leser attraktiv werden konnte.

In einem weiteren Abschnitt malt der Verfasser das Revolutionstreiben in Warschau aus, das von den geheimen Aktivitäten unterschiedlicher politischer Gruppierungen vorbereitet wurde. Es wird als ein Katz und Mausspiel mit der Polizei erzählt, wobei leider das Narrativ der Denunziation und Kollaboration nicht berücksichtigt wurde. Die Revolution und zeitnahe Pogrome führten dazu, dass sich die eben entstandeneSammelbeckenbewegungpolitisch auszudifferenzieren begann.

Auf die Revolution folgte derrussische Frühlingmit seiner Liberalisierung und Semi-Parlamentarisierung. Ury referiert umfangreich die Kontroversen um die beiden Repräsentanten der Stadt für die Duma und verlegtdas Ende der jüdisch-polnischen Symbiosevon dem der Forschung akzeptierten Jahr 1912 in die Periode um 1905. Er spricht von einemJudenzentrismusder politischen Debatten und gibt die Argumentation der Nationaldemokraten und der Progressiven Demokraten wieder. Ury erklärt, wie sich die Figurdes Judenin der Argumentation beider Bewegungen politisch verfestigen konnte und welche Rolle die vierte Gewalt, die Presse, dabei spielte. Er attestiert den polnischen Liberalen eine Unfähigkeit, sich dem negativen Judenbild der Nationaldemokraten zu widersetzen; vielmehr hätten die Liberalen es für eigene Zwecke übernommen. Der Konnex zwischen Gleichberechtigung, Demokratisierung und Ethnisierung sowie der Geburt des politischen Antisemitismus ist sehr anschaulich herausgearbeitet.

Scott Ury hat ein sehr schönes und gut lesbares, um nicht zu sagen poetisches Buch geschrieben. Die Hauptleistung des Verfassers ist es, dass er das politische Geschehen in einen breiten kulturellen und sozialen Kontext eingebettet hat, wobei er diesen Kontext auf der Höhe der aktuellen Forschung und ihres Methodeninventars wiedergibt. Dadurch gelingt es ihm einerseits, die spezifisch jüdischen Antworten auf die allgemeinen Zeitfragen herauszuarbeiten, andererseits bekommen diese Antworten einen universalen Charakter.

Ury zeichnet Warschau und seine Gesellschaft zwar im Wandel, aber immer nach vorne gerichtet: Das Festhalten an Gewohnheiten und Traditionen wird nicht einmal erwogen. Obwohl er fast gänzlich auf die Kontrastierung zwischen polnischen Juden und Litvaki verzichtet, bleibt sein Bild trotzdem bipolar-manichäisch. Während der Verfasser die Differenzen und die Durchlässigkeit der Grenzen innerhalb der neuen Gesellschaft einräumt, gönnt er denTraditionalistenund denModernisierernkeine Kontakträume. Ob die Trennungslinien zwischen den jüdischen Milieus in Warschau wirklich so eindeutig waren? Man könnte die Entstehung der neuen Initiativen auch nicht als eine Ersetzung (replacement), sondern als eine Ergänzung des Traditionellen verstehen, die zwar den Autoritätsanspruch der Alteingesessenen beschnitten hätte, aber auch von den Machthabern als notwendige akzeptiert worden wäre.

Hanna Kozińska-Witt, Rostock

Zitierweise: Hanna Kozińska-Witt über: Scott Ury: Barricades and Banners. The Revolution of 1905 and the Transformation of Warsaw Jewry. Stanford, CA: Stanford University Press, 2012. XXII, 415 S., 12 Abb., 4 Ktn. = Stanford Studies in Jewish History and Culture. ISBN: 978-0-804-76383-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kozinska-Witt_Ury_Barricades_and_Banners.html (Datum des Seitenbesuchs)

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