Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Hanna Kozińska-Witt

 

Friedrich Lenger: European Cities in the Modern Era, 1850–1914. Transl. by Joel Golb. Leiden, Boston, MA: Brill, 2012. XI, 312 S. = Studies in Central European Histories, 57. ISBN: 978-90-04-23338-6.

Das in einem renommierten Verlag herausgegebene und solide gemachte Buch (gutes Papier und stabile Bindung) beruht auf einer langjährigen Beschäftigung mit der Geschichte der Städte und der Urbanisierung, aus der viele Werke hervor gegangen sind. Das große Verdienst des Autors, eines der führenden Stadt- und Medienhistoriker Deutschlands, ist es, dass er mit diesem Buch die üppigen Erträge der deutschen wenn nicht sogar der westeuropäischen urban history (Fachliteratur in Englisch, Französisch und Italienisch wurde ausgewertet) dem englischsprachigen Publikum auf eine attraktive Weise zugänglich macht. Der Verfasser kündigt im Vorwort einen Forstsetzungsband an, in dem er seine Städtegeschichte bis in die Gegenwart hinein erzählen möchte.

Der Titel weist auf eine thematische Öffnung und eine Gewichtsverschiebung hin: Während es in den früheren Werken Lengers vor allem um die westeuropäische oder aber die amerikanische Stadt ging, hat sich hier das mapping zu Gunsten eines breiter verstandenen Europas verschoben. Der Titel spricht nicht von den Städten in Europa, verstanden als Städte auf dem europäischen Kontinent, sondern erweckt den Eindruck, dass sich der Autor zur europäischen Stadt als einem Stadttypus bekennt. Im Vorwort kündigt er an, den Kontaktraum und die Verflechtungen zwischen dem städtischen Westen und dem Osten im Kontext der konkreten Regionen analysieren zu wollen. Lenger erwähnt dabei beide widerstreitenden Forschungstraditionen, die über den Charakter der Kommunen und deren Beschaffenheit unterschiedlich urteilen lassen: während die eine das Soziale fokussiert, hebt die andere das Ethnisch-Nationale hervor. Der Verfasser beansprucht offensichtlich beide Interpretationsstränge miteinander zu verbinden und kündigt sein Interesse in der sozialen Raumproduktion samt den unterschiedlichen sozialen Praktiken an. Viel Aufmerksamkeit möchte er dem Vergleich und den Typologien einräumen. Das Hauptziel des Buches soll eine Beschreibung des Lebens in einer Großstadt Europas in seiner vollen Komplexität sein (S. 4).Von diesem Interesse geleitet, möchte Lenger sowohl neue Zugänge zu den Hauptthemen der europäischen urban history präsentieren als auch gleichzeitig die Geschichte des urbanisierten Europas von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs neu schreiben (S. 7).

Als wichtigsten Entwicklungsfaktor des Urbanen betrachtet Lenger den Drang nach Modernisierung bzw. Modernität (modernity). Die vom ihm vorgeschlagene Periodisierung wird demnach mit drei Begriffen zusammengefasst:a limited bourgeois modernity, an organized modernity and a postmodernism“. In diesem Rahmen werden alle die Themen angesprochen, die sich im Fokus der klassisch verstandenen urban history befinden.

Im ersten Kapitel werden die beidenwichtigsten‘ Hauptstädte Europas, London und Paris, vorgestellt, wobei die Analyse der dort stattfindenden großen Welt- und Nationalausstellungen einen breiten Platz einnimmt. Die Entwicklung von Paris und London betrachtet der Autor jedoch schließlich als atypisch für das restliche Europa. Im Kapitel zwei werden die unterschiedlichen demographischen und wirtschaftlichen Kontexte der Urbanisierung der europäischen Regionen besprochen und die Rolle, welche Migration dabei spielte, geschildert. In diesem Rahmen finden auch typologischen Erwägungen statt. Problematisiert wird die Art der Vernetzung der Städte untereinander sowie deren Bindung an Regionen, Staaten und Kontinente. Kapitel drei thematisiert Migration in die Städte und innerhalb der Städte (u.a. Suburbanisierung), deren Verlauf und Konsequenzen sowie die Zusammenhänge zwischen der sozialen und der räumlichen Mobilität. Hier wird auch der Rang der städtischen Identität im Kontrast zu anderen Identitätsangeboten diskutiert. In Kapitel geht der Autor auf die städtischen Lebensbedingungen ein und auf die Versuche, diese zu reformieren. Besonderes Gewicht liegt dabei auf der Herstellung eines Zusammenhangs zwischen Hygiene und sozialer Problematik. Näher analysiert wird auch ein zentraler Teilaspekt, nämlich das Wohnen. Das fünfte Kapitel konzentriert sich auf das (Selbst)Verständnis der modernen Stadt, ihre Infrastruktur, ihre Veränderung, die Rolle der kommunalen Selbstverwaltung und die Art der von der Kommune eingeleiteten Entwicklungsmaßnahmen (im Sinne einerorganised modernity). Im sechsten Kapitel werden die Produktion, die Produzenten und die Rezipienten einer differenzierten städtischen Kultur unter die Lupe genommen und nach der Rolle der Stadt in der Medienwelt (als media center) gefragt. Das siebte und letzte Kapitel schließlich problematisiert die Stadt als eine Arena der Konflikte.

Das Buch ist übersichtlich konzipiert und zugänglich geschrieben; es wird sicher in universitären Lernveranstaltungen Verwendung finden. Umso wichtiger ist es zu eruieren, was der imaginierte ferne Leser dort über die osteuropäischen und ostmitteleuropäischen Städte samt deren Stadtgeschichten erfahren kann.

Schon der Blick in das Ortsregister kann erste Auskünfte geben. Das Hauptinteresse des Autors gilt weiterhin den Städten und vor allem den Hauptstädten im westlichen Teil des Kontinents, auch der Einblick in denwestlichen‘ Süden wird breiter und tiefer. Die Entwicklungen dort sind um die Vorgänge in Ostmitteleuropa ergänzt und mit denen in Ost- und Südosteuropa kontrastiert worden, vor allem mit dem Beispiel der dortigen Hauptstädte. Während der deutsche industrialisierte und verstädterte Westen detailliert geschildert wird, finden Sachsen und Schlesien nur beiläufig Erwähnung, von Borysław beispielsweise, dem Zentrum der galizischen Erdölgewinnung mit seinem wuchernden Wachstum und seinen Slums ganz zu schweigen. Besonders auffallend ist die oberflächliche Behandlung des Habsburgerreiches (detailliert nur Wien), obwohl die Österreichische Akademie der Wissenschaften schon seit Jahren eine von der deutschen beeinflusste Bürgertums- und Urbanisierungsforschung betreibt, deren Ergebnisse teilweise in Druckform vorliegen. Aus diesem Defizit erklärt sich wahrscheinlich auch eine weitgehend Nichtberücksichtigung Böhmens und der Slowakei, obwohl Historiker aus Brünn schon seit Jahren fleißig über die Stadtentwicklung in ihrer Region und dabei besonders zur kommunalen Sozialpolitik, teilweise sogar auf Deutsch, publizieren. Zudem stehen die Städte Ostmitteleuropas bei Lenger ziemlich verlassen in ihrer agrarischen Umgebung, eine eventuelle Vernetzung untereinander wird nicht einmal erwogen. Zwar erfährt man in diesem Buch einiges über einzelne Städte Ostmitteleuropas, jedoch findet die Urbanisierung dieser Region keinen rechten Anschluss an die europäische Entwicklung.

Allerdings sind die Verdienste des Autors größer als seine Unterlassungen: die Entwicklungen in Ostmitteleuropa fügen sich reibungslos in die Stadtgeschichten hinein, die Lenger, wie üblich flüssig und interessant, erzählt. So wird zwar der imaginierte, in der englischen Sprache versierte Fachleser in diesem Buch wenig über Städte Ostmitteleuropas erfahren, diese werden ihm jedoch als unzweifelhaft europäische Städte vermittelt und somitentexotisiert. Das Englische macht dieses Buch auch dem breiteren ostmitteleuropäischen Fachpublikum zugänglich. Hoffentlich wird es sich dadurch als Referenzwerk für die weitere Bearbeitung der ostmitteleuropäischen Stadtgeschichte anregend auswirken. Für die an Stadtgeschichte interessierten Vertreter der Osteuropastudien ermöglicht es einen guten thematischen Einstieg.

Hanna Kozińska-Witt, Rostock

Zitierweise: Hanna Kozińska-Witt über: Friedrich Lenger: European Cities in the Modern Era, 1850–1914. Transl. by Joel Golb. Leiden, Boston, MA: Brill, 2012. XI, 312 S. = Studies in Central European Histories, 57. ISBN: 978-90-04-23338-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kozinska-Witt_Lenger_European_Cities_in_the_Modern_Era.html (Datum des Seitenbesuchs)

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