Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ines Koeltzsch

 

Ingrid Stöhr: Zweisprachigkeit in Böhmen. Deutsche Volksschulen und Gymnasien im Prag der Kafka-Zeit. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2010. 497 S., Tab. = Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Reihe A: Slavistische Forschungen, 70. ISBN: 978-3-412-20566-9.

In den letzten zwanzig Jahren wird der Geschichte der Zweisprachigkeit in den böhmischen Ländern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowohl von der sozio-linguistischen als auch von der historischen Forschung zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt. Im Zentrum dieser Forschungen stehen zum einen die Dynamik der österreichischen Nationalitäten- und Sprachenpolitik und ihre Auswirkungen auf das Schulwesen in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie, zum anderen die Kompetenz und der Umgang mit Zwei- und Mehrsprachigkeit einzelner Personen, hier vor allem Franz Kafkas und seiner Familie. In der vorliegenden Studie Ingrid Stöhrs, die als Dissertation aus einem von Marek Nekula geleiteten Regensburger ForschungsprojektSprache und Identität. Franz Kafka im mitteleuropäischen sprachlichen und kulturellen Kontexthervorgegangen ist, kommen beide Forschungsstränge zusammen. Stöhr geht der Frage nach, wie sich das Sprachverhalten der Prager Bevölkerung am Ende des 19. Jahrhunderts infolge der österreichischen Sprachenpolitik, der zunehmenden Nationalisierung und des sozio-strukturellen Wandels der städtischen Gesellschaft veränderte. Sie untersucht daher dasSprachverhaltender Schülerinnen und Schüler an ausgewählten deutsch- und teilweise auch tschechischsprachigen Volks- und Mittelschulen in Prag, die sichin einer sich zunehmend sprachnational spaltenden Gesellschaft [] für Bilingualität entscheiden bzw. bereits auf eine gewisse, ungesteuert erworbene Bilingualität zurückgreifen können und bereit sind, diese im Rahmen der Schulegesteuertauszubauen(S. 78–79).

Zunächst setzt sich die Autorin in einem über siebzig Seiten umfassenden Kapitel mit den zentralen Begriffen ihrer StudieSprachnationalismus (einschließlich Ideologie, Identität, Ethnizität/Nationalität) und Bilingualismusauseinander und erläutert diese jeweils vor dem böhmischen bzw. Prager Hintergrund. Aus der Sicht einer Historikerin sind hier vor allem Stöhrs Ausführungen zum Bilingualismus als einer Form von Mehrsprachigkeit aufschlussreich. In Anlehnung an die bisherige Forschung unterscheidet sie zwischen individuellem und kollektivem Bilingualismus. Sie verweist hierbei vor allem darauf, dass beim individuellen Bilingualismus (auch als Bilingualität bezeichnet) die Fertigkeiten und Anwendungsbereiche in beiden Sprachen stark variieren und nur selten auf demselben Niveau sind. Beim kollektiven Bilingualismus hingegen müssen nicht alle Mitglieder einer Gesellschaft beide Sprachen beherrschen. Vielmehr ist hier allein die Tatsache entscheidend, dass innerhalb eines Territoriums zwei Sprachen in Kontakt stehen. Im Böhmen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts herrschte Stöhr zufolge immer noch eine funktionelle, kollektive Mehrsprachigkeit, eine Diglossie vor, die im Wandel begriffen war: Das Tschechische alsbeherrschte, alltagsbezogene Sprache verdrängte allmählich das Deutsche, die ehemalsdominante, mit höherem sozialen Prestige verbundene Sprache.

Im dritten Kapitel skizziert Stöhr die soziostrukturellen Rahmenbedingungen dieses nicht linear verlaufenden Prozesses in Böhmen und insbesondere in Prag. Neben der Rekonstruktion der diversen Bevölkerungs- und Sprachenstatistiken vergleicht sie die Statusfaktoren des Deutschen und Tschechischen in Gesetzgebung, Verwaltung und Wirtschaft. Während auf der Landesebene das Deutsche die dominante Sprache in den genannten Bereichen blieb, vollzog sich in Prag bereits seit den Kommunalwahlen von 1861 ein radikaler Verdrängungsprozess zugunsten der tschechischen Sprache. Im vierten Kapitel nähert sich Stöhr ihrem eigentlichen Untersuchungsgegenstand an und diskutiert die doppelte Funktion des Schulwesens alsInstrument sprachnationaler LenkungundSpiegel desSprachverhaltens‘“. Sie deutet hier bereits eines ihrer zentralen Ergebnisse an, dass trotz der sinkenden Attraktivität des deutschsprachigen Schulwesens in Prag eine Minderheit tschechischer Muttersprachler weiterhin das Deutsche als Unterrichtssprache wählte. Dies bedeutete auch, dass die Entscheidung für das Tschechische oder das Deutsche als Unterrichtssprache trotz wachsenden Drucks in der nationalisierten Gesellschaft freiwillig war. (S. 248)

Im fünften Kapitel untersucht die Stöhr schließlich die Verbreitung des individuellen Bilingualismus in Prag um 1900. Sie wertet die Schulkataloge im Hinblick auf die darin enthaltenen persönlichen Angaben zu Muttersprache(n), Zweitsprache, Schulleistungen im Sprachunterricht, Konfession und sozialer Herkunft der Schüler und Schülerinnen aus. Bei der Auswahl der Schulen orientiert sich die Autorin an der Schulbiographie Franz Kafkas. Neben den deutschsprachigen Schulen, die Franz Kafka, seine Schwestern und seine späteren deutsch-jüdischen Schriftstellerkollegen besuchten, nimmt sie zugleich auch tschechischsprachige Bildungsinstitutionen in deren unmittelbarer Umgebung in den Blick. Für die letzteren stellt sie fest, dass die Vertreter der tschechisch-deut­schen Zweisprachigkeit, deren Zahl kontinuierlich abnahm, vor allem aus einem traditionell geprägten, kleinbürgerlichen Umfeld kamen, insbesondere aus katholischen Handwerks- und jüdischen Handels- und Kaufmannsfamilien. Wenngleich die an den deutschen Schulen repräsentierte deutsch-tschechische Bilingualität ebenfalls in beiden konfessionellen Gruppen auftrat, war sie in erster Linie für jüdische Pragerinnen und Prager charakteristisch. Sie wurden wie Franz Kafka in Prag oder in der tschechischsprachigen Provinz geboren und stammten überwiegend aus der Mittelschicht. An den deutschen Bildungseinrichtungen im Prag der Jahrhundertwende verzeichnet Stöhr zwar eine erhöhte Bereitschaft, die tschechische Sprache zu erlernen, gleichwohl betont sie, dass dadurch nicht automatisch ein potentieller Bilingualismus erreicht wurde. Dies trifft jedoch nicht auf Franz Kafka zu, einen Repräsentanten desdeutsch-tschechischen bilingualen Pragerspar excellence, dem die Autorin das letzte Kapitel widmet. Seine überdurchschnittlichen Schulleistungen im Tschechischunterricht an der Volksschule weisen daraufhin, dass Kafka über sehr gute vorschulische Tschechisch-Kenntnisse verfügte. Zwar wählten seine Eltern eine deutschsprachige Volksschule, sie legten aber offensichtlich Wert auf die Festigung der in der Alltagskommunikation mit Angestellten und Kunden ebenso üblichen tschechischen Sprache. Auch am deutschen Staatsgymnasium in der Prager Altstadt wurde deutlich, dass Kafkas zweisprachige Kenntnisse eher eine Ausnahmeerscheinung darstellten. Als einer von nur drei Schülern seiner Klasse nahm er alle acht Schuljahre am Tschechisch-Unterricht teil und erzielte hier konstant gute bis sehr gute Leistungen. Kafkas Bilingualismus charakterisiert Stöhr abschließend als asymmetrischDeutsch war die dominantere Sprachesowie als früh und gesteuert erworben. Er erlernte das Tschechische als zweite Sprache schon im Kindesalter und konnte seine Zweisprachigkeit durch den Schulunterricht festigen. Zudem handelte es sich um einen endogenen Bilingualismus, da in seinem sozialen Umfeld beide Sprachen präsent waren.              

Stöhr legt mit ihrer Untersuchung eine solide gearbeitete Detailstudie zur Geschichte der Zweisprachigkeit in den böhmischen Ländern, und insbesondere im Prag des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor. Gleichwohl schränken die unausgewogene Proportion zwischen thematischer und theoretisch-methodischer Herleitung und eigentlicher Untersuchung, die starke Untergliederung des Textes, häufige Redundanzen sowie die Darstellung des Vergangenen im Präsens das Lesevergnügen des Buches ein. Nichtsdesto­trotz liefert Stöhr einen weiteren Baustein zu einernoch ungeschriebenenumfassenden Sozial- und Kulturgeschichte der Zweisprachigkeit in den böhmischen Ländern im Zeitalter des modernen Nationalismus.

Ines Koeltzsch, Prag

Zitierweise: Ines Koeltzsch über: Ingrid Stöhr: Zweisprachigkeit in Böhmen. Deutsche Volksschulen und Gymnasien im Prag der Kafka-Zeit. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2010. 497 S., Tab. = Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Reihe A: Slavistische Forschungen, 70. ISBN: 978-3-412-20566-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Koeltzsch_Stoehr_Zweisprachigkeit_in_Boehmen.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Ines Koeltzsch. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.