Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Maria Köhler-Baur

 

Zbyněk Vydra: Život za cara? Krajní pravice v předrevolučním Rusku. Červený Kostelec: Mervart, 2010. 552 S., Abb., Tab. = Russia Altera, 17. ISBN: 978-80-87378-08-3.

Ein Leben für den Zaren?Diese Überschrift für das umfassende Werk Zbyněk Vyd­ras über die extreme Rechte im vorrevolutionären Russland greift den gleichnamigen Titel der nationalromantischen Oper Michail Glinkas auf, um zu illustrieren, in welcher Tradition sich die rechten Gruppierungen sahen. Anders als der legendäre Bauer Ivan Susanin, der sein Leben für den Begründer der Romanov-Dynastie ließ, führten die Aktivitäten der Ultrarechten nicht zum gewünschten Erfolg. Warum es der vermeintlich großen Mehrheit („to jsou tisíce, miliony, cely pravoslavný ruský lid“; S. 477) nicht gelang, das bestehende System zu stabilisieren und die Monarchie zu retten, dieser Frage geht der Autor nach.

Antijüdische Pogrome, demagogische Parolen und die unverbrüchliche Treue zum Zaren, darauf reduziert sich häufig die Vorstellung von der extremen Rechten. In der vorliegenden Studie wird die Geschichte und Entwicklung der rechten Gruppierungen ausführlich und detailliert dargestellt. Für die Fülle an Informationen über Personen, regionale Strukturen und jeweilige Besonderheiten des Verbandslebens wurden überwiegend Archivalien aus dem Staatlichen Archiv der Russischen Föderation [GARF] Moskau ausgewertet, darunter Bestände zu Sojuz russkogo naroda [SRN] und Russkij narodnyj sojuz Michaila Archangela [SMA] sowie zu einigen Persönlichkeiten: Boris Nikolskij, Publizist und Mitglied der Russkoe sobranie, sowie Protoierej Ioann Vostorgov. Auch gedruckte Quellenu.a. die Edition Padenije carskogo režima(S. 17–18), die einen großen Teil der Protokolle der Untersuchungskommission der Provisorischen Regierung enthält, – wurden verwendet.

Die extreme oder äußerste Rechte (krajní pravice) oder Ultrarechte (ultrapravice), wie sie der Verfasser im folgenden bezeichnet, war einintegraler Bestandteil der politischen Szeneund konnte eineklar formulierte Ideologie vorweisen(S. 11). Doch vor 1917 existierte keine Bewegung, die die Bezeichnungrechts“ im Namen trug. Als Bund oder Verband (sojuz), wie sie sich in Abgrenzung von den linken Parteien nannten, gehörten der Sojuz russkogo naroda [Bund des russischen Volkes, SRN], Sojuz russkich ljudej [Bund russischer Menschen, SRL] und Russkij narodnyj sojuz Michaila Archangela [Russischer Volksbund Erzengel Michael, SMA] zu diesem Spektrum. Sie selbst bezeichneten sich als Monarchisten, Rechte oder Schwarzhunderter. Eines der charakteristischen Merkmale der Ultrarechten war der offene Antisemitismus. Dieses Phänomen durchzieht die gesamte Studie und istmit Ausnahme der Bejlis-Affäre auf dem Höhepunkt des ultrarechten Antisemitismus (S. 388–398)nicht in einem gesonderten Kapitel gebündelt.

Im ersten Kapitel beschäftigt sich der Verfasser mit den Wurzeln der ultrarechten Ideologie, die aus dem konservativen Denken des 19. Jahrhunderts hervorging. Ausgehend von der offiziellen Staatsideologiepravoslavie, samoderžavie, narodnostentwickelten sich die späteren konservativenParteien. Aus dem Adel, dem Beamtentum und Kreisen der Slavophilen kamen die ersten Vertreter des keineswegs monolithischen Konservativismus. Zielauch der späteren rechten Verbändewar es, die Autokratie zu erhalten, die privilegierte Position der orthodoxen Kirche und des russischen Volkes zu wahren und sich für die Unteilbarkeit des Reiches einzusetzen.

Den Anfängen der organisierten ultrarechten Bewegung Russkoe Sobranie, um 1900/1901 entstanden, ist ein eigenes Kapitel gewidmet, mit dem Fokus auf den Jahren 1905–1907. In diesem Zeitraum bildeten sich ab Februar 1905 die neu konzipierten politischen Vereinigungen, de facto politische Parteien wie SRL oder RMP. Nach dem 17. Oktober 1905 hörte Russland auf, eine autokratische Monarchie zu sein. Doch was war es dann? Die monarchistische Bewegung stand nun vor der Herausforderung, sich neu zu definieren und einen Platz im neuen System zu finden.

Die folgenden drei Kapitel sind der Entstehung der ersten ultrarechten Parteien gewidmet, allen voran der wichtigsten: Sojuz russkich ljudej. Der Autor untersucht hier zum einen die Ausbreitung der ultrarechten Parteien im gesamten Russländischen Reich. Exemplarisch werden drei Regionen erforscht: das zentrale Schwarzerde­gebiet, die Industrieregion um Moskau (oblast Jaroslavl, oblast Vladimir) und die süd- und westrussischen Gouvernements, d.h. die heutige Ukraine. Zum anderen werden das Abschneiden der Ultrarechten in den Wahlen zur 1. und 2. Staatsduma sowie der Einfluss derselben in diesen dargestellt.

Nach der Einführung des neuen Wahlgesetzes am 3. Juni 1907 erlebten die rechten Parteien ihren größten Aufschwung, und kurz darauf folgte die Ernüchterung. Mit der Krise der Ultrarechten, dem gewandelten Verhältnis der staatlichen Organe zum extremen Teil der Partei und den Spaltungen innerhalb der SRN beschäftigt sich das 6. KapitelZu viele Adler. Dazu zählten u.a. Aleksandr Dubrovin als Vertreter des extremistischen Flügels des SRN und Kritiker Stolypins sowie der Vorsitzende der Moskauer Monarchisten Protoierej Ioann Vostorgov.

Das Parteileben der Ultrarechten war stark ritualisiert; besonders galt das für ihr Auftreten in der Öffentlichkeit. Das Bildnis des Heiligen Georg als Schutzpatron Moskaus auf Fahnen und Wappen stand für die Verbindung zur Kiever Rus, den Kampf gegen innere und äußere Feinde. Die Verbindung der offiziellen staatlichen Ideologie mit den Ultrarechten war besonders deutlich beim Romanov-Jubiläum 1913 spürbar, weshalb der Autor hier die Inszenierung der Feierlichkeiten in allen Einzelheiten schildert. Der Schlusschor aus der OperEin Leben für den Zarenals inoffizielle nationale Hymne gehörte ebenfalls dazu.

Die beiden letzten Kapitel beleuchten das Wirken der Ultrarechten in der 3. und 4. Staatsduma (1907–1912, 1912–1914) sowie deren Haltung zum Ersten Weltkrieg. Wie reagierten sie auf die Bildung des Progressiven Blocks? Versuchten sie das Regime zu verteidigen bzw. die Revolution abzuwenden? Noch 1912 hatte Puriškevič, Führer der rechten Fraktion, erklärt, er sehe den Sinn seines Lebens darin, seinem Zaren zu dienen, und er wäre glücklich, wenn er für den Zaren und zum Ruhm seines Reiches sterben würde. Die Krise brachte jedoch selbst überzeugte Patrioten zu der Einsicht, dass Zar und Russland längst nicht mehr eine unauflösliche Einheit bildeten.Wenn ich zu wählen hätte zwischen Zar und Russland, ich würde ich mich für Russland entscheiden.So formulierte es General Brusilov im Frühjahr 1916 (S. 462).

Insgesamt vermittelt diese Untersuchung, basierend auf umfangreichen Quellenstudien, einen detaillierten Einblick in das Leben der äußersten Rechten, in ihre regionalen Organisationsstrukturen und ihren Kampf für Glaube, Zar und Vaterland.

Im Anhang befindet sich der Leitfaden der Schwarzhundert-Monarchisten (hier in tschechischer Übersetzung). Dieses 1906 von Vladimir Gringmut verfasste Wahlprogramm der Russischen Monarchistischen Partei vermittelt einen Eindruck von der Schlichtheit der ultrarechten Ansichten. Den Schluss bilden Quellen- und Literaturverzeichnis, Verzeichnis der Fotografien, die Zusammenfassung in englischer und russischer Sprache sowie das sehr ausführliche Personenregister. Ein Sachregister, das die Benutzung erleichtern würde, fehlt leider.

Maria Köhler-Baur, München

Zitierweise: Maria Köhler-Baur über: Zbyněk Vydra: Život za cara? Krajní pravice v předrevolučním Rusku. Červený Kostelec: Mervart, 2010. 552 S., Abb., Tab. = Russia Altera, 17. ISBN: 978-80-87378-08-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Koehler-Baur_Vydra_Zivot_za_cara.html (Datum des Seitenbesuchs)

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