Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Maria Köhler-Baur

 

Irina Paert: Spiritual Elders. Charisma and Tradition in Russian Orthodoxy. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2010. XIII, 286 S., 10 Abb. ISBN: 978-0-87580-429-3.

In ihrer Studie über „Spiritual Elders“ beschreibt Irina Paert ein Phänomen der russischen-orthodoxen Spiritualität, das bisher noch nicht ausreichend beleuchtet wurde. Sie schlägt den Bogen von den Ursprüngen geistlicher Führung bei den frühchristlichen Wüstenvätern über die Periode der Aufklärung und Reformen sowie die Sowjetzeit bis in die Gegenwart. Der Schwerpunkt dieser Darstellung liegt allerdings auf dem 19. Jahrhundert.

Ausgehend von der Frage, welche Rolle die Ältesten bei der Interaktion zwischen offizieller Kirche und der Volkskultur spielen, stellt Irina Paert zunächst ein Zitat Dostoevskijs aus dem Roman „Die Brüder Karamazov“ voran: „Was also ist ein starec? Das ist einer, der deine Seele und deinen Willen in seine Seele und in seinen Willen aufnimmt.“ Damit ist bereits klar, dass bei allen Konnotationen (vom blinden Bettler bis zur Autorität im Mönchtum des Mittelalters) hier von Personen mit außerordentlichen spirituellen Einsichten die Rede ist. Außerdem wird deutlich, dass die Vorstellung von dem Ältesten „an sich“ gerade durch die Literatur in der allgemeinen Wahrnehmung stark stilisiert war.

Ein starec zu sein bedeutete nicht, einen Platz in der kirchlichen Hierarchie innezuhaben; es handelte sich eher um ein inoffizielles geistliches Amt, das seine Reputation ‚von unten‘ bezog und daher quasi als ein demokratisches Element interpretiert wird. Charakteristisch für die „Spiritual Elders“ sind die im Untertitel genannten Begriffe Charisma und Tradition. Charisma ist nicht im theologischen Sinne als Gabe des Heiligen Geistes zu verstehen, sondern – beeinflusst von den soziologischen Theorien insbesondere Max Webers – eine Kraftquelle in sich selbst. Tradition definiert Irina Paert als kollektives Gedächtnis (S. 6).

Die vorliegende Studie gliedert sich in sechs Kapitel mit einem Anhang aus einem Quellenverzeichnis, einer Auswahlbibliographie und einem ausführlichen Index. Die verwendeten Quellen werden nur sehr kurz skizziert (S. 14), wünschenswert wäre auch eine inhaltlich etwas ausführlichere Auflistung der verwendeten Archivbestände gewesen.

Im ersten Kapitel werden die historischen Grundlagen des starčestvo vom frühchristlichen Ideal des pneumatikos patir (geistlichen Vaters) (S. 27) über die verschiedenen Formen des Mönchtums in Byzanz, die Trennung in lateinischen Westen und orthodoxen Osten bis hin zur Wiederbelebung der Orthodoxie durch den ukrainisch-moldavischen Klosterrefomer Paisij Veličkovskij (1722–1794) dargestellt. Dessen Schriften und sein Interesse für die „Philokalia“ (1782), eine Anthologie frühchristlicher und byzantinischer Autoren vom 3. bis 14. Jahrhundert, prägten die weitere Entwicklung des russischen Mönchtums.

Im zweiten Kapitel wendet die Autorin ihre Aufmerksamkeit dem Verhältnis zwischen Mönchtum und Starzen, der Renaissance der geistlichen Führung während der Säkularisation und der Westorientierung der Gesellschaft im 18. Jahrhundert zu. Die Wiederentdeckung hesychastischer Schriften auf dem Balkan und die damit verbundene Frömmigkeit machte den Hesychasmus zu einem Charakteristikum der orthodoxen Tradition. Auch die Förderung der Starzen durch ‚aufgeklärte‘ Bischöfe und den Adel sowie die Intoleranz seitens des synodalen Systems wird erwähnt.

Der Hauptteil der Monographie (Kapitel 3–5) ist dem Zusammenspiel bzw. den Differenzen von Staat, Gesellschaft und Kirche und den kirchlichen Institutionen gewidmet.

In Kapitel 3 geht es um die Wiederherstellung des Starzentums während des romantischen Nationalismus. Konservative Slavophile nutzten romantische Ideen, um die russisch-orthodoxe Kirche als einen direkten Ableger der byzantinischen Kirche zu präsentieren und als Hüterin unwandelbarer Tradition zu stilisieren. Trotz aller offensichtlichen Kontraste zur Politik Alexanders I, die auf die Philosophie der Aufklärung setzte, durchdrang der Mystizismus die offizielle Ideologie. Starzen passten in die Vision vom messianischen Königreich und erfreuten sich deswegen einer gewissen religiösen Toleranz. Auch wenn geistliche Führung eine marginale Praxis blieb, so ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein allmählicher Prozess zu beobachten, in dem zwei im Grunde antagonistische Kräfte wie Charisma und Tradition ineinander verschmolzen (S. 74; Max Weber).

Auf der Suche nach mehr „authentischen“ Formen der Spiritualität kam dem Hesychasmus eine besondere Rolle zu. Das starčestvo ist der Autorin zufolge gemeinhin mit den Schülern des berühmten Paisij Veličkovkij gleichgesetzt worden; dabei habe man aber die Heterogenität des Starzentums übersehen. In Optina Pustyn, dem bedeutendsten Kloster der Provinz Kaluga, schätzte und publizierte man auch die Schriften von Zosima Verchovskij, dem starec Vasilisk und anderen Ältesten. Konservative Prälaten und Philosophen stellten sich zwar nicht gegen den Mystizismus an sich, sie versuchten ihn aber von ‚subversiven‘ Elementen zu reinigen, um auf diese Weise die russische Orthodoxie zu stärken. Abschließend kommt die Autorin zu der Erkenntnis, dass trotz der ideologischen Unterstützung für das Starzentum seitens einiger konservativer Philosophen und für diese Form der Spiritualität offener Prälaten das charakteristische Merkmal dieser Periode die endemische Spannung zwischen charismatischen Starzen und kirchlichen Würdenträgern sei (S. 102).

Wandel und Kontinuität im Starzentum im Kontext von Modernisierung und sozialen Reformen im Gefolge der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 sind das Thema des vierten Kapitels. Die Bemühungen des Heiligen Synod, die Starzen in die institutionellen Strukturen einzubinden, offenbarte die Grenzen des offiziellen Konzepts. Das literarische Image, das in den Werken der bedeutenden russischen Schriftsteller jener Zeit vorherrschte, reflektiert hingegen das idealisierte Bild eines orthodoxen religiösen Führers. Die Slavophilen priesen die Ältesten sogar als moralischen und spirituellen Kompass der Nation und als wahre Führer des russischen Volkes. (S. 105) In der Realität kompensierten Starzen und Mönche den Mangel an Seelsorgern in den ländlichen Gebieten. Zwar begünstigte die Infrastruktur das Pilgerwesen und damit auch die Nähe der Gläubigen zu den geistlichen Zentren wie den Athos-Klöstern, dem Kloster Optina Pustyn und der Troickij-Sergiev-Lavra, doch trotz aller Elogen blieben die sozialen Auswirkungen der Starzen ebenso wie auch ihr Einfluss auf die Kirche begrenzt.

Im 5. Kapitel wird parallel dazu die Aneignung der charismatischen Kraft der russischen Starzen durch die politischen Eliten und die Unterschichten diskutiert. Trotz der Bemühungen des Heiligen Synod, eine ‚gemäßigte‘ Version des Starzentums zu institutionalisieren, ist es diesem nicht gelungen, die Kontrolle über die volkstümliche Aneignung charismatischer Aktivität zu gewinnen. In diesem Zusammenhang werden die Gründe für die Verbindung von Starzentum und Volksreligion am Ende des 19. Jahrhunderts dargelegt.

In der späten Zarenzeit hatte sich das starčestvo zur weithin akzeptierten, höheren Form des Mönchtums entwickelt. Das Erbe des Starzentums der Zarenzeit für die nachrevolutionäre Periode und die post-sowjetische Ära wird im abschließenden Kapitel abgehandelt, das, wie die Autorin selbst bemerkt, keine erschöpfende Analyse des starčestvo in Sowjet-Russland ersetzen kann (S. 14).

Insgesamt handelt es sich bei Irina Paerts Werk um eine sehr lesenswerte Darstellung, die eine neue Perspektive auf die Geschichte der russisch-orthodoxen Kirche eröffnet und starčestvo als Quintessenz der orthodoxen Religiosität (R. Nichols) in ihren Mittelpunkt stellt.

Maria Köhler-Baur, München

Zitierweise: Maria Köhler-Baur über: Irina Paert: Spiritual Elders. Charisma and Tradition in Russian Orthodoxy. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2010. XIII, 286 S., 10 Abb. ISBN: 978-0-87580-429-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Koehler-Baur_Paert_Spiritual_Elders.html (Datum des Seitenbesuchs)

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