Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Marina Klyshko

 

Rensselear Lee / Artyom Lukin: Russias Far East. New Dynamics in Asia Pacific and Beyond. Boulder, CO, London: Lynne Rienner Publishers, 2016. XI, 275 S., 9 Tab., 3 Abb. ISBN: 978-1-6263-7389-1.

Der russische Ferne Osten, der im Zuge von Putins Stärkung der Machtvertikale im Jahr 2000 zu einem Föderationskreis zusammengefasst worden ist, war bislang mit wenigen Ausnahmen ein blinder Fleck der Forschung. Rensselaer Lee und Artyom Lukin zeigen in ihrer facettenreichen Studie, dass der Region im Zusammenhang mit der außenpolitischen Kehrtwende Russlands in Richtung Asien seit der Jahrtausendwende immer mehr Bedeutung in der russischen Politik beigemessen wird. Die Studie ist das Ergebnis eines russisch-amerikanischen Gemeinschaftsprojektes. Lee, leitender Wissenschaftler des Foreign Policy Institute (FPI) in Washington, und Lukin, stellvertretender Forschungsdirektor an der Hochschule für regionale und internationale Studien der Fernöstlichen Universität in Vladivostok, arbeiten mit ihrem neuen Buch die geopolitische Bedeutung des Fernen Ostens heraus, die vor dem Hintergrund der wachsenden Rolle Chinas in Asien und der russisch-chinesischen Annäherung weiter zugenommen hat.

Der Ferne Osten wird als eine Region mit spezifischen soziokulturellen, politischen, ökonomischen und demographischen Eigenschaften und damit in ihrer gesamten Komplexität betrachtet. Ergänzt wird die Studie durch statistische Tabellen und Karten, worin gleichzeitig eine Stärke der Untersuchung liegt. Der russische Ferne Osten ist der größte der acht Föderationskreise Russlands und nimmt 36 Prozent des Territoriums des Landes ein. Er verfügt über wertvolle Bodenschätze, große Flächen an Ackerland, reine Wasservorräte und biologische Ressourcen. Seine geographische Lage am Nordpazifik und am Nordpolarmeer lässt ihn zu einem Schauplatz konkurrierender Interessen zwischen Russland, China und den USA werden. Zugleich ist die Region mit nur 6,2 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern einer der am dünnsten besiedelten Föderationskreise, dessen ökonomische Entwicklung durch die mit der Auflösung der Sowjetunion in Gang gekommene Abwanderung und die infrastrukturelle Rückständigkeit erschwert wird. Während die Heterogenität des Fernen Ostens bei Lee und Lukin sehr deutlich wird, kommen in ihrer Darstellung die Verbindungen innerhalb der Region etwas zu kurz. Im Fokus der Studie stehen die Beziehungen zwischen Moskau und der Region sowie die transnationalen Beziehungen im asiatisch-pazifischen Raum.

Nach der allgemeinen Einführung zum russischen Fernen Osten geben die Autoren einen Einblick in dessen Geschichte. Auf eine Darstellung der russischen Ostexpansion seit dem 16. Jahrhundert folgt ein Überblick über die Festigung der russischen Präsenz im 19. Jahrhundert.

Seit dem Beginn der Kolonisation wurde die Region vom Zentrum des Landes einerseits als Rohstofflieferant, andererseits als ein Vorposten für die Legitimierung und Durchsetzung russischer Interessen in Asien betrachtet. Die Zäsuren der sowjetischen Geschichte – der Bürgerkrieg und der Zweite Weltkrieg – werden in den darauffolgenden Abschnitten behandelt. Die Autoren gehen hier hauptsächlich auf die transnationale Bedeutung der Region ein und verfolgen die Integrations- und Desintegrationsmomente innerhalb des asiatisch-pazifischen Raums. Isolation oder gar Konfrontation des Fernen Ostens mit den benachbarten Ländern alternierten mit Kooperationsbestrebungen, als etwa die sowjetische Regierung Investitionen vor allem aus den USA und Japan einwerben wollte. Es folgt eine Analyse des wirtschaftlichen Zusammenbruchs der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die von Arbeitslosigkeit, Schattenwirtschaft, organisierter Kriminalität und dem weitgehenden Kollaps der regionalen Infrastrukturen geprägt waren. Eine Stabilisierung konnte erst seit der Jahrtausendwende vor dem Hintergrund eines rasanten Wirtschaftswachstums und eines intensivierten Handels mit den asiatischen Ländern erreicht werden. Hatte Moskau in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Fernen Osten vernachlässigt, veränderte sich die Situation in der Ära Putin. Die Wende Russlands nach Osten führte zu massiven staatlichen Subventionen zur Entwicklung des Föderationskreises. Die Spannungen zwischen dem Westen und Russland vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise waren ein zusätzlicher Faktor in der Verlagerung außenpolitischer Prioritäten Russlands auf den asiatisch-pazifischen Raum.

Seitdem spielt der russische Ferne Osten eine besondere Rolle in den internationalen Beziehungen zwischen Russland und den asiatischen Ländern, insbesondere im Verhältnis zu China. Dabei verfolgen die Autoren die sich wandelnde Wahrnehmung Chinas in Russland. Diese führte in der postsowjetischen Zeit zunächst zu einer Stabilisierung der Beziehungen, die schließlich in einer im Freundschaftsvertrag von 2001 festgeschriebenen Partnerschaft mündete. Wenn sich die russisch-chinesische Kooperation bis 2014 hauptsächlich auf den Handel in Grenzgebieten beschränkte und die zentrale Regierung Chinas dem russischen Fernen Osten nur wenig Aufmerksamkeit widmete, ändert sich allmählich die Wahrnehmung der Region auch in Beijing, das den Zugang zu den Rohstoffquellen absichern will. Die Analyse der Wirtschaftssituation in China und Russland sowie ihrer Entwicklungstendenz seit 2009 bietet einen Einblick in die möglichen Sphären russisch-chinesischer Kooperation (Öl, Gas, Kohle, Elektrizität etc.).

Darüber hinaus gehen die Autoren auf die ‚symbiotischen Beziehungen‘ zwischen dem russischen Fernen Osten und den chinesischen Grenzregionen Heilongjiang, Jilin und Liaoning ein. Lee und Lukin legen dar, dass die komplementäre Wirtschaftsstruktur beider Länder eine gute Grundlage für die Entwicklung gemeinsamer Projekte im ressourcenreichen russischen Fernen Osten bildet. Behindert werde diese allerdings durch die noch immer misstrauische Politik Moskaus gegenüber der ökonomischen Expansion Chinas, die infrastrukturelle Rückständigkeit, die klimatischen Bedingungen und die katastrophale demographische Situation der Region.

Auch den russisch-amerikanischen Beziehungen im Fernen Osten ist ein Kapitel gewidmet. Die mehr als zweihundertjährige Geschichte der Interaktionen zwischen Amerika und Russland ist durch Kooperation, Konkurrenz und Konflikte gekennzeichnet. In der postsowjetischen Zeit bezogen die USA eine indifferente Haltung zu den Ambitionen Moskaus in Asien, was Lee und Lukin als politischen Fehler bezeichnen. So wenden sich die Autoren in einem Abschnitt mit konkreten Empfehlungen an amerikanische Politiker und werben für eine stärkere und vielfältigere Kooperation mit Russland. China sei der Hauptgegner der USA und die russisch-amerikanische Zusammenarbeit könne ein Gegengewicht zu dem wachsenden Einfluss Chinas in Asien darstellen. Diese mit Freund-Feind-Kategorien operierenden Ausführungen wirken in einer wissenschaftlichen Studie etwas fehl am Platz.

Ungeachtet dieses Ausflugs in die geopolitische Politikberatung ist in diesem Buch auf informative Weise das Wissen über den Fernen Osten synthetisiert. Es wäre allerdings interessant, auch von den Verbindungen zwischen den einzelnen Gebieten im Fernen Osten zu erfahren, die im Buch keine Beachtung gefunden haben. Neben der Verknüpfung von historischen, politischen, ökonomischen und identitätsspezifischen Informationen liegt der Erkenntnisgewinn der Studie in der Betrachtung der Region im Kontext der transnationalen Beziehungen im asiatisch-pazifischen Raum. Die Publikation ist für alle interessant, die sich einen Überblick über das Gebiet, insbesondere im Kontext der russisch-chinesischen Interaktionen verschaffen wollen.

Marina Klyshko, München

Zitierweise: Marina Klyshko über: Rensselear Lee, Artyom Lukin: Russia’s Far East. New Dynamics in Asia Pacific and Beyond. Boulder, CO, London: Lynne Rienner Publishers, 2016. XI, 275 S., 9 Tab., 3 Abb. ISBN: 978-1-6263-7389-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Klyshko_Lee_Russias_Far_East.html (Datum des Seitenbesuchs)

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