Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Robert Kindler

 

Massovye repressii v Altajskom krae 1937–1938 gg. Prikaz Nr. 00447 [Die Massenoperationen im Altaj-Gebiet 1937–1938. Befehl Nr. 00447]. Sostaviteli G. D. Ždanova, V. N. Razgon, M. Junge i R. Binner. Moskva: Izdat. Rosspėn; Fond Prezidentskij centr B. N. El’cina, 2010. 751 S., Tab. = Istorija stalinizma. ISBN: 978-5-8243-1384-0.

Die Massenoperationen der Jahre 1937/38 werfen Fragen auf, die zu den ‚klassischen Problemen‘ der Stalinismusforschung zählen und deshalb immer wieder aufs Tapet gebracht werden. Auch die Herausgeber des vorliegenden Band gehen einigen von ihnen nach. Sie interessieren sich dafür, weshalb Menschen in die Fänge des Repressionsapparates gerieten: Gab es dafür überhaupt angebbare Gründe? Waren Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht ausschlaggebend oder lag es an individuellen Ansichten und Handlungen, ob jemand zum Opfer wurde? Sie fragen, weshalb die Mitarbeiter des NKVD so viel Kraft und Zeit darauf verwandten, über jedes einzelne Opfer der Massenoperationen eine mehr oder minder umfängliche Akte anzulegen. Und schließlich geht es um den Inhalt dieser Akten. Was enthalten sie? Verfälschungen, Verzerrungen oder etwa doch auch Abbilder realer Ereignisse?

In der Einleitung zum zentralen Kapitel „Arest i sledstvie“ gibt Mark Junge Antworten: Er beschreibt die Massenoperationen als ‚normale‘ bürokratische und zielgerichtete Veranstaltung des stalinistischen Staates. Die Opfer seien zumeist nicht willkürlich ausgewählt worden. Es habe vor allem jene „antisowjetischen Elemente“ und „Kulaken“ getroffen, von denen im Befehl 00447 die Rede war. Deshalb verfehle es den Kern der Sache, wenn man die Massenoperationen als unkontrollierten Terrorexzess begreife. Es habe sich vielmehr um den verwaltungsmäßigen Vollzug höheren Orts beschlossener Maßnahmen gehandelt. Die Säuberung war kein Selbstzweck, sondern ihr Ziel habe in der „Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft stalinistischen Typs“ bestanden. Kurz, es ging darum, jene Menschen zu identifizieren und aus der Gesellschaft herauszulösen, deren Loyalität fraglich zu sein schien.

Ähnlich haben es die Herausgeber bereits an anderer Stelle formuliert. Bei „Massovye repressii v Altajskom krae“ handelt es sich um die letzte Veröffentlichung des internationalen Forschungsprojekts „Stalinismus in der sowjetischen Provinz, 19371938. Die Massenoperationen auf Grundlage des Befehls 00447“. Deshalb unterscheiden sich die hier vorgeschlagenen Interpretationen auch nicht substanziell von denen der anderen Bände des Projekts.

Mehr als 260 ausführlich kommentierte Dokumente verleihen dem Buch seine Struktur. Im Zentrum stehen dabei fünf exemplarisch ausgewählte Untersuchungsakten aus dem Altajgebiet. Jeder dieser Fälle soll eine der wesentlichen Opfergruppen der Massenoperationen repräsentieren, mithin Typisches erhellen. Bei den Betroffenen handelt es sich um einen „Kulaken“, der zur Zeit seiner Verhaftung auf dem Land lebte, einen „Kulaken“ aus der Stadt, einen Kolchosbauern, einen Geistlichen und einen Kriminellen. Um diese Einzelschicksale haben die Herausgeber weitere Kapitel und Dokumente gruppiert, in denen es um die Täter und ihre Techniken geht, aber auch um Rehabilitierungen und die Angehörigen Repressierter.

Liest man in den Untersuchungsakten, so wird deutlich, wie man zu der Einsicht gelangen kann, hier sei zwar Unrecht geschehen und Anschuldigungen seien frei erfunden worden, aber der NKVD habe zumindest immer gewusst, wen es treffen sollte. Was die Tschekisten notierten und abhefteten, das zeugt offenbar von effizienten bürokratischen Prozeduren. Doch auf welche Weise wurden Gefangene dazu gebracht, sich zur Mitgliedschaft in konspirativen Terrororganisationen zu bekennen, die allein der Phantasie des NKVD entsprungen waren? Dazu geben die Akten keine Auskunft. Und deshalb ist auch in den Kommentaren der Autoren nur ganz am Rande die Rede davon, dass den Gefangenen Gewalt angetan wurde. Aber kann man über die Massenoperationen schreiben, ohne der vielfachen Folterungen, Demütigungen und Zwangsmaßnahmen Erwähnung zu tun?

Das Bild von der bürokratischen Normalität des Terrors erhält tiefe Kratzer, ohne dass man auf andere Publikationen verweisen müsste. Es genügt, einige Seiten weiter zublättern – bis zum äußerst aufschlussreichen Kapitel mit den Aussagen von Tschekisten, die an den Massenoperationen beteiligt waren und dazu später als Angeklagte oder Zeugen vernommen wurden. Diese ‚Täterakten‘ erlauben faszinierende Einblicke in die Extrembedingungen, unter denen die Tschekisten arbeiteten. Zwar ist der Einwand der Herausgeber berechtigt, dass die Täter von 1937 gute Gründe hatten, sich mit ihren Aussagen selbst zu schützen und andere zu belasten. Aber wenn es um die Methoden ihrer Arbeit ging, brauchten sich die NKVD-Männer gegenüber ihren Kollegen nicht zu verstellen. Doch wann immer von Zwang und Gewalt die Rede ist, relativieren die Herausgeber und sprechen von Einzelfällen. Deshalb drängt sich mitunter der Eindruck auf, dass man in diesem Buch zwei Geschichten lesen kann, die nicht immer völlig kongruent miteinander sind: Eine steht in den Quellen und eine andere in den kommentierenden Texten. Aber es sind auch gar nicht unbedingt die Interpretationen der Herausgeber, die das Buch zu einem wichtigen Beitrag für die Stalinismusforschung machen. Sein eigentlicher – gar nicht hoch genug zu schätzender – Wert, das sind die hier versammelten Dokumente.

Robert Kindler, Berlin

Zitierweise: Robert Kindler über: Massovye repressii v Altajskom krae 1937–1938 gg. Prikaz Nr. 00447 [Die Massenrepressionen im Altaj-Gebiet 1937–1938. Befehl Nr. 00447]. Sostaviteli G. D. Ždanova, V. N. Razgon, M. Junge i R. Binner. Moskva: Izdat. Rosspėn; Fond Prezidentskij centr B. N. El’cina, 2010. 751 S., Tab. = Istorija stalinizma. ISBN: 978-5-8243-1384-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kindler_Zdanova_Massovye_repressii.html (Datum des Seitenbesuchs)

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