Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Robert Kindler

 

Anna Reid: Blokada. Die Belagerung Leningrads 1941–1944. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin: Berlin Verlag, 2011. 587 S., 20 Abb., 3 Ktn. ISBN: 978-3-8270-0713-1.

Die Belagerung Leningrads nimmt in (post-)sowjetischen Heldenepen über den Zweiten Weltkrieg einen besonderen Platz ein. Die Geschichte der900 Tagewar wie kaum eine andere dazu geeignet, das Narrativ vom unbezwingbaren Widerstandsgeist der sowjetischen Bevölkerung zu illustrieren: Tapfer hätten die Menschen noch die härtesten Entbehrungen auf sich genommen, klaglos seien sie für die gerechte Sache gestorben und nur den heroisch kämpfenden Verteidigern sei es zu verdanken gewesen, dass die Stadt nicht durch die Wehrmacht erobert werden konnte. Und dieStraße des Lebensüber den vereisten Ladogasee wurde zum Synonym für die Solidarität desSowjetvolkesmit der eingeschlossenen Bevölkerung. Kurzum: Die (ver-)hungernden und (er-)frierenden leningradcy wurden zu herausragenden Symbolen desvaterländischenKrieges.

In den letzten Jahren sind einige Arbeiten erschienen, die solche Verklärungen einer kritischen Revision unterzogen. Auch Anna Reids Buch gehört in diese Kategorie. InBlokadaerzählt sie die Geschichte der Belagerung aus der Perspektive der Betroffenen. Mit Hilfe von Tagebucheinträgen, Erinnerungen, Briefen und Interviewsequenzen entwirft die Autorin ein ebenso fesselndes wie erschütterndes Panorama der Gesellschaft im belagerten Leningrad. Je dramatischer die Hungersnot wurde, desto mehr misstrauten die Menschen einander und desto größer wurde ihre Bereitschaft Grenzen zu überschreiten. Kulturelle und zivilisatorische Tabus verloren zunehmend ihre Wirkung. Deshalb nahm die Kriminalität auf den Straßen zu, bestahlen auch Kinder ihre Eltern oder Frauen ihre Männer. Der Hunger zerstörte soziale Bindungen. Die Autorin erspart ihren Lesern kein Detail: die Rede ist von Kindern, die neben ihren toten Müttern ausharren, von den verunstalteten Körpern der Hungernden, ausführlich werden die grauenhaften Zustände auf den städtischen Friedhöfen und kannibalische Praktiken beschrieben. Solche Geschichten werden Seite um Seite aneinandergereiht; nicht nur, um zu unterstreichen, wie furchtbar die Verhältnisse insbesondere im Winter 1941/42 waren, sondern auch, um zu zeigen, wie Menschen das Unfassbare dieser Extremsituation rationalisierten.

Die Quellenlage für solch ein Vorhaben ist außerordentlich günstig. Es gibt wohl keine Hungerkatastrophe vergleichbaren Ausmaßes, die von den Betroffenen in ähnlich umfassender Weise beschrieben, analysiert und kommentiert wurde. Denn in Leningrad hungerten (abgesehen von den Wenigen, die aus unterschiedlichen Gründen privilegiert waren) auch die kulturellen Eliten, deren Aufzeichnungen und Erinnerungen schonungslose Einblicke in das Vegetieren am Abgrund erlauben. Vor allem anhand dieser Ego-Dokumente beschreibt Reid, wie das Leben zum Stillstand kam und buchstäblich einfror. Alle Gedanken und Gespräche kreisten nur noch um ein Thema: Essen. Menschen, denen es gelang, zu überleben, verfügten in der Regel über zusätzliche Ressourcen (waren sie auch noch so gering) und zwangen sich zu äußerster Disziplin. Manchen gelang es gar, trotz aller Beschwernisse zu musizieren, wissenschaftliche Studien zu betreiben oder in den Verwaltungen Dienst zu tun. Diese pflichtbewussten Menschen sind die Helden jeder Blockadedarstellung und sie sind es auch in Anna Reids Studie.

Die Kapitel über den Winter 1941/42, den Hunger und seine Auswirkungen sind die stärksten des gesamten Buches. Die Darstellung ist ganz auf diese Katastrophenzeit fokussiert, während die Monate zwischen Sommer 1942 und der endgültigen Aufsprengung des Belagerungsringes am 27. Januar 1944 rascher abgehandelt und als eine Phase der relativen Normalisierung und Konsolidierung beschrieben werden. Dazu gehörte offenbar auch, dass die Überlebenden nun all jene ausgrenzten, die trotz der allgemeinen Erholung noch immer hungerten und die äußeren Merkmale derDystrophikeraufwiesen. Wer selbst nicht mehr vom Hunger gezeichnet war, konnte den Anblick der Ausgemergelten nicht mehr ertragen.

Die militärische Dimension der Belagerung spielt in Reids Buch eine eher untergeordnete Rolle. Dies ist nicht nur den Schwerpunkten ihrer Darstellung geschuldet, sondern es gibt dafür auch gewichtige Gründe: Im Vergleich zu anderen Kriegsschauplätzen in der Sowjetunion passierte hier vergleichsweise wenig. Nach dem vernichtenden Gemetzel, dem die 2. Stoßarmee beim Versuch, die Blockade zu durchdringen, zum Opfer fiel, beschränkten sich Wehrmacht und Rote Armee weitgehend auf die Aufrechterhaltung des Status quo. Die einen wollten nicht weiter vorrücken und die anderen waren nicht in der Lage, die Belagerer entscheidend zu schwächen. Der Belagerungsring wurde erst zerschlagen, als es der sowjetischen Seite gelang, eine überwältigende Überlegenheit an Menschen und Material für die Offensive zu mobilisieren.

So brillant die Darstellung Anna Reids ist, wenn es um die Schicksale der Einzelnen geht, so blass bleibt das Buch, wenn es um den politischen Kontext der hier behandelten Ereignisse geht. Staat und Partei sind inBlokadaüber weite Strecken eineBlack Box. Sie sind in der Darstellung zwar stets präsent, erscheinen meist aber nur in der Rolle von Befehlsgebern, zu deren Anweisungen und Direktiven sich die Bevölkerung verhalten muss. Reid berichtet auch vom nicht endenden Terror in der belagerten Stadt, doch über die Dynamiken innerhalb des sowjetischen Machtapparates, über Entscheidungsprozesse und Konflikte in der (Leningrader) Führung erfährt man hiervon Stalins wutschnaubenden Telegrammen im ersten Kriegshalbjahr einmal abgesehennur wenig. Damit bleibt die Geschichte vom Funktionieren des stalinistischen Herrschaftssystems unter den extremen Bedingungen der Belagerung weitgehend unerzählt. Das ist bedauerlich, denn nur ein Blick in den Maschinenraum der Macht hätte eine Antwort auf die Frage liefern können, weshalb die Stadt nicht vollständig in sich zusammenbrach. Diewenngleich meisterhafteSchilderung individuellen Erlebens vermag dies nicht zu leisten.

Robert Kindler, Berlin

Zitierweise: Robert Kindler über: Anna Reid: Blokada. Die Belagerung Leningrads 1941–1944. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. Berlin: Berlin Verlag, 2011. 587 S., 20 Abb., 3 Ktn. ISBN: 978-3-8270-0713-1, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Kindler_Reid_Blokada.html (Datum des Seitenbesuchs)

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