Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Robert Kindler

 

Terror und Geschichte. Hrsg. von Helmut Konrad / Gerhard Botz / Stefan Karner / Siegfried Mattl. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2012. 265 S., Abb., Graph. = Veröffentlichungen des Clusters „Geschichte“ der Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft, 2. ISBN: 978-3-205-78559-0.

Inhaltsverzeichnis:

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Hier ist zwischen zwei Buchdeckeln versammelt, was nicht zwingend zueinander gehört. Unter dem (zu) weit gespannten Dach der BegriffeTerror und Geschichtewerden ganz unterschiedliche Themen verhandelt, die auf einer 2009 abgehaltenen Tagung zum Vortrag kamen. Eine die Texte verbindende Fragestellung lässt sich weder aus der Einleitung Helmut Konrads destillieren, noch drängt sie sich nach der Lektüre der Beiträge auf, die in vier Hauptkapitel unterteilt sind.

Was dem Leser im Abschnitt Formen des sowjetischen Terrors geboten wird, ist enttäuschend. Hier wird einmal mehr deutlich, weshalb der osteuropäischen Geschichte vielfach der Ruf anhängt, methodisch und inhaltlich nicht unbedingt zu den Schrittmachern unter den historischen Teildisziplinen zu gehören. Dabei wäre der thematische Fokus des BandesKriegs- und Gewalterfahrungen im 20. Jahrhundertgeradezu dazu prädestiniert, spezifisch osteuropäische Dimensionen in aktuelle Debatten um Traumatisierungen und die Verarbeitungen von Terrorerfahrungen einzubringen. Doch Stefan Kar­ners Text über die sowjetischen Geheimdienstchefs ist kaum mehr als eine uninspirierte Aneinanderreihung biographischer Details. Die Ausführungen von Barry McLoughlin zum Schicksal österreichischer Bürger im Großen Terror hat man aus seiner Feder so ähnlich schon mehrfach lesen können. Am interessantesten ist noch der detaillierte Aufsatz von Walter M. Iber über die Geschichte sowjetischer Sonderwirtschaftszonen im Nachkriegsösterreich und das Schicksal jener Menschen, die alsSpionevom sowjetischen Geheimdienst repressiert wurden.

Erfahrungsgeschichte des Zweiten Weltkriegs ist eine zweite Gruppe von Artikeln überschrieben, deren Autoren methodisch deutlich reflektierter zu Werke gehen. Die Ergebnisse des groß angelegten Forschungsprojekts zu den Abhörprotokollen deutscher und österreichischer Soldaten in alliierter Kriegsgefangenschaft, die hier in den Texten von Sönke Neitzel und Richard Germann präsentiert werden, sind in jüngerer Zeit breit und kontrovers diskutiert worden. Neitzel verweist darauf, dass die Dichotomiesaubere Wehrmachtverbrecherische Wehrmacht, die die Debatten oft genug konturiert, am Kern der Sache vorbei geht, wenn man etwas über die Wahrnehmungen der Soldaten selbst in Erfahrung bringen will. Dazu müsse man sich dem eigentlichen Kriegsgeschehen, den Schlachten und Gefechten, zuwenden. Sie hätten den maßgeblichsten Einfluss auf die Wahrnehmungen der Soldaten gehabt. Marianne Enigl interessiert sich dafür, wie österreichische Gebirgsjäger ihre Handlungen während des Polenfeldzugs 1939 rationalisierten. Ihre Darstellung lebt in erster Linie von den ausführlichen Zitaten aus Texten der Soldaten, die von ihrem drakonischen Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung berichten.

Im Abschnitt Terror, Erzählung und Darstellung werden Fragen verhandelt, die sich aus der Historisierung, Überlagerung oder auch filmischen Inszenierung von Gewaltherrschaft ergeben. So ist es faszinierend, in Jörg Müllers Beitrag nachzuvollziehen, in welchen Spannungsverhältnissen französische Historiker sich in den Jahren nach 1945 befanden, als ihnen in der Justiz ein zeitweise übermächtiger Konkurrent erwuchs: Es waren Gerichte, die französische Erinnerungsdiskurse nachhaltig prägten. Müller fragt nach den Ursachen dieses Phänomens und vollzieht die schrittweise Emanzipation der Geschichtswissenschaft von einer den französischen Nachkriegsstaat affirmierenden Haltung nach.

Die anregendsten Texte finden sich unter der Überschrift Psychische und psychiatrische Konsequenzen von Krieg und Terror. Es sei eine ausgesprochen ahistorische Herangehensweise, so liest Hans-Georg Hofer einer Reihe von Fachkollegen die Leviten, wenn aktuelle Traumakonzeptionen wie das Posttraumatische Belastungssyndrom zur Analyse von Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften herangezogen werde. Er plädiert dafür, Entstehungsbedingungen psychiatrischen Wissens zu untersuchen und zu bedenken, welche Traumavorstellungen etwa in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg überhaupt existierten.Trauma, so sein Fazitist keine fest definierbare, essenzialisierbare und retrospektiv eindeutig anwendbare Kategorie.(S. 220) Was es für Betroffene bedeutet, unter einem Posttraumatischen Syndrom zu leiden und wie langfristig die Konsequenzen einer Traumatisierung durch Staatsterror sein können, wird im Text von Brigitte Lueger-Schuster deutlich: Sie beschreibt, wie Menschen, die in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert waren, auch heute noch unter den Folgen dieser Erfahrungen leiden. In ihrem beeindruckenden Beitrag setzt Helga Amesberger sich mit dem Problem auseinander, wieTraumatisierungen in den Forschungsprozess intervenieren(S. 233). Dabei handelt es sich um ein doppeltes Problem. Amesberger reflektiert einerseits, wie sie in Gesprächen mit Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt während des Nationalsozialismus geworden waren, eine erneute Traumatisierung zu vermeiden suchte und welche Gesprächsstrategien dazu nützlich sein können. Andererseits berichtet sie von den Rückwirkungen des Gehörten auf sich selbst und von der Gefahr, selbst eine Traumatisierung zu erleiden. Ihr Plädoyer für eine psychologische Begleitung von Forschenden, die sichin welcher Form auch immermit Gewalterfahrungen befassen, verdient unbedingt Beachtung und sollte weiter diskutiert werden.

Die Lektüre mancher Aufsätze ermüdet. Das hat oft nicht unbedingt etwas mit den Inhalten, sondern mit den Präsentationsformen zu tun. Es ist fraglich, ob das Bemühen um eine geschlechterneutrale Sprache wirklich in grammatikalisch und ästhetisch bedenklichen Sätzen wie diesem hier von Jörg Müller münden muss:Die Historikerin und der Historiker als Zeugin bzw. Zeuge unterscheidet sich von der Historikerin und dem Historiker als technische Expertin bzw. technischer Experte in mehrerlei Hinsicht.(S. 72)

 Anhand der versammelten Beiträge wird einmal mehr deutlich, wie viele verschiedene Facetten die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen von Gewalt und Krieg haben kann. Doch aus der Vielfalt der Zugänge entsteht hier kein analytischer Mehrwert. Damit ist das Buch in gewisser Weise repräsentativ für eine akademische Realität, in der ähnliche Themenallen Bekenntnissen zur Kooperation zum Trotzhäufig aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln untersucht werden, ohne auf die Erkenntnisse anderer Disziplinen einzugehen. Es ist zu hoffen, dass zumindest die Autoren während ihrer persönlichen Begegnungen im Jahre 2009 ins interdisziplinäre Gespräch fanden. In ihren Texten spiegelt sich davon leider nur wenig wider.

Robert Kindler, Berlin

Zitierweise: Robert Kindler über: Terror und Geschichte. Hrsg. von Helmut Konrad / Gerhard Botz / Stefan Karner / Siegfried Mattl. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2012. 265 S., Abb., Graph. = Veröffentlichungen des Clusters „Geschichte“ der Ludwig-Boltzmann-Gesellschaft, 2. ISBN: 978-3-205-78559-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kindler_Konrad_Terror_und_Geschichte.html (Datum des Seitenbesuchs)

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