Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Robert Kindler

 

Janet M. Hartley: Siberia. A History of the People. New Haven, London: Yale University Press, 2014. XX, 289 S., 26 Abb., 11 Ktn. ISBN: 978-0-300-16794-8.

Wie lässt sich eine Geschichte Sibiriens schreiben, die anders ist als bisherige Darstellungen? Janet Hartley gibt auf diese Frage eine klare Antwort: Ihre Monographie sei der Versuch, die Schicksale jener Menschen ins Zentrum zu rücken, die in Sibirien gelebt, geliebt und gelitten hätten. Auf lediglich 250 Seiten entfaltet die Autorin in 16 ebenso kurzen und wie gut lesbaren Kapiteln ein komplexes Panorama sibirischer Zustände im Verlaufe von fünf Jahrhunderten. Das Buch ist chronologisch aufgebaut und wie in vielen anderen Darstellungen beginnt die Geschichte Sibiriens auch hier im 16. Jahrhundert, als die russische Expansion nach Osten ihren Anfang nahm. In den ersten, eher systematisch angelegten Abschnitten diskutiert Hartley unter anderem naturräumliche Gegebenheiten, untersucht die unterschiedlichen Lebenswelten von Siedlern in Dörfern und Städten und thematisiert Sibirien als Verbannungsort und Zufluchtsraum für religiöse Minderheiten wie Altgläubige und Sektierer. Dabei wird deutlich, welch enge Grenzen dem russischen Herrschaftsanspruch in weiten Teilen der Region im 17. und 18. Jahrhundert gesetzt waren.

Geschickt versteht es die Autorin, in ihrer Erzählung immer wieder drei wesentliche Grundspannungen zu thematisieren, die ihrer Ansicht nach konstitutiv für das Verständnis der Geschichte Sibiriens sind: Erstens das Verhältnis Sibiriens zu Russland, zweitens die nicht zuletzt daraus resultierende Ambivalenz zwischen „freien“ und „unfreien“ Einwohnern Sibiriens und schließlich drittens die multiethnische Bevölkerungszusammensetzung. Janet Hartley lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Geschichte Sibiriens nur als Teil der russischen Geschichte zu begreifen sei. Sibirien war nicht das exotische „Andere“, sondern sei stets genuiner Teil des Imperiums gewesen. Daher weist sie immer wieder darauf hin, dass sich in Sibirien alles so ähnlich verhielt wie im Rest des Landes, nur seien die Verhältnisse hier oftmals extremer gewesen. Das gelte etwa für das harsche Klima, für Kommunikationsprobleme zwischen Zentrum und Peripherie, aber auch für die allgegenwärtigen Trunkenheit der männlichen Bevölkerung. Zugleich konstatiert sie zahlreiche Kontinuitäten in der Haltung der imperialen bzw. sowjetischen Herrschern gegenüber Sibirien, wenn es etwa um die Ausbeutung natürlicher Ressourcen oder die Nutzung weiter Teile der Region als „Müllzone“ ging. Sibirien wurde zu einem Ort der Verbannung und der Isolation. Doch galt das Land hinter dem Ural auch als Hort der Freiheit, wo Bauern und Siedler scheinbar ungehindert ihre Äcker bestellen konnten. Hartley zeigt, wie sich fernab der Machtzentren in St. Petersburg und Moskau scheinbar eindeutige Zuschreibungen wie „frei“ und „unfrei“ verschieben konnten und Raum für jene spezifische Form der „gefühlten“ Freiheit in Sibirien schufen, die es anderswo in Russland so nicht gab. Die indigene Bevölkerung hatte freilich kaum die Möglichkeit, in den Genuss jener sibirischen Freiheit zu kommen. Für Jakuten, Burjaten und andere Völker Sibiriens bedeutete die Integration ins russische Imperium auf lange Sicht das Ende ihrer Eigenständigkeit. Die Autorin schildert diesen Prozess gleichwohl nicht nur als eindimensionalen Akt kolonialer Unterwerfung, sondern diskutiert – soweit es im Rahmen einer Überblicksmonographie überhaupt möglich ist – Chancen und Möglichkeiten der Indigenen unter sich verändernden Bedingungen.

Man merkt dem Buch an, dass Hartley Spezialistin für die russische Geschichte vor den Großen Reformen ist. Während es ihr in den Kapiteln über die Zeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gelingt, ein plastisches Bild von Land und Leuten zu zeichnen, sind die Abschnitte zum ausgehenden Zarenreich und zur Sowjetunion weniger gut gelungen. Hier gerät die Darstellung zunehmend zu einer Aufzählung von Ereignissen, die vielfach unverbunden nebeneinander stehen. Insbesondere die Kapitel zur sowjetischen Geschichte können nicht überzeugen, denn Hartley konzentriert sich vor allem auf die Aspekte Chaos, Gewalt und Terror. Doch in ihrem Narrativ bricht die Gewalt von außen über die Menschen hinein, ohne dass klar würde, weshalb das so war und welche Ziele sich mit dieser Gewalt verbanden. Weil das offen bleibt, versteht man auch nicht, wie nach Stalins Tod aus diesem „Alptraum“ eine Gesellschaft „neuer sowjetischer Menschen“ entstehen konnte, die im vorletzten Kapitel des Buches thematisiert wird.

Insgesamt betrachtet, liegt mit Siberia. A History of the People eine überzeugende Einführung in die Geschichte Sibiriens vor, die nicht nur alle wesentlichen Aspekte des Themas anspricht, sondern noch dazu gut lesbar ist. Dennoch wird Janet Hartley ihrem Anspruch nicht durchgehend gerecht, eine Geschichte der Menschen in Sibirien zu schreiben. Zwar illustriert sie ihre Erzählung immer wieder mit biographischen Details ganz unterschiedlicher Personen, doch gelingt es nur selten, aus der Addition individueller Perspektiven und persönlicher Schicksale einen analytischen Mehrwert zu erzeugen.

Robert Kindler, Berlin

Zitierweise: Robert Kindler über: Janet M. Hartley: Siberia. A History of the People. New Haven, London: Yale University Press, 2014. XX, 289 S., 26 Abb., 11 Ktn. ISBN: 978-0-300-16794-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kindler_Hartley_Siberia.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Robert Kindler. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.